Sonntag, 26. Januar 2014

Die "Schwarze Milch" von Auschwitz erinnern – zurückblicken, ohne zu erstarren

Ich halte den 27. Januar für einen der wichtigsten staatlichen Gedenktage. Er erinnert am Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee an alle Opfer des Nationalsozialismus.

1
Erinnern schwebt zwischen bewusstem Entschluss und nicht bewusstem Fakt. Manches kann ich mir „ins Gedächtnis rufen“, manches „fällt mir ein“, ungewollt, spontan, überraschend. Erinnernd kehren wir mental zurück in bestimmte Situationen und tauchen zu Teilen wieder in sie ein. Emotionales und Rationales durchdringen sich beim Erinnern ebenso wie die verschiedenen Ziele und Wünsche.
Bewusste und regulierte Erinnerung kann bei vielen Traumata ein Weg zur Heilung sein, wenn es auch kein einfacher Weg ist. Auf einer Arbeit von Astrid Klein in der Neuen Nationalgalerie steht: „Ich erinnere mich pathetisch, punktuell und nicht philosophisch, diskursiv: ich erinnere mich, um glücklich unglücklich zu sein – nicht um zu begreifen.“1
Dach einer Laubhütte, Jüdisches Museum Berlin, 2014.
Wir Nachgeborenen erinnern Auschwitz natürlich nicht als eigene Befreiung und nicht als eigene Not - wir machen uns die Erinnerungen der Überlebenden zueigen und treten in gewisser Weise neben sie.

2
Im Jüdischen Museum Berlin ist noch bis zum 09. Februar die spannende Ausstellung „Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen“ zu sehen. Vorgestellt werden in sehr ästhetischem Arrangement Erinnerungsrituale zu den verschiedensten Themen, wie Gottes Wort, den verlorenen Tempel, die Endlichkeit, die Wanderung in der Wüste, das Gesetz – und eben auch die Shoah.
Erinnern entreißt die Dinge dem allmählichen Verschwinden und löst Tabus durch Erinnerungsrituale auf. Eben dadurch werden aber andere Tabus möglicherweise erst geschaffen, wie die Künstlerin Quintan Ana Wikswo in der Ausstellung zeigt, indem sie die bislang nicht ins öffentliche Erinnerungsbewusstsein gelangte Ausbeutung von Frauen im Lagerbordell künstlerisch reflektiert.

3
Ist eine künstlerische Annäherung an das Grauen, das Menschen in diesen Jahren erleben mussten, möglich? Nicht nur Theoror W. Adorno hatte dazu seine kontrovers diskutierte Meinung, auch Erich Kästner gab in der Vorrede seines Tagebuchs zum Kriegsende eine zweifache Antwort:

Bänke vor Mauer, Berlin-Mitte, 2014.
Das Tausendjährige Reich hat nicht das Zeug zum großen Roman. Es taugt nicht zur großen Form, weder für eine 'Comédie humaine' noch für eine 'Comédie inhumaine'. Man kann eine zwölf Jahre lang anschwellende Millionenliste von Opfern und Henkern architektonisch nicht gliedern. Man kann Statistik nicht komponieren. Wer es unternähme, brächte keinen großen Roman zustande, sondern ein unter künstlerischen Gesichtspunkten angeordnetes, also deformiertes blutiges Adreßbuch, voll erfundener Adressen und falscher Namen.
Meine Skepsis gilt dem umfassenden Versuch, dem kolossalen Zeitgemälde, nicht dem epischen oder dramatischen Segment, den kleinen Bildern aus dem großen Bild. Sie sind möglich, und es gibt sie. Doch auch hier steht Kunst, die sich breitmacht, dem Ziel im Weg. Das Ziel liegt hinter unserem Rücken, wie Sodom und Gomorrha, a1s Lots Weib sich umwandte. Wir müssen zurückblicken, ohne zu erstarren. Wir müssen der Vergangenheit ins Gesicht sehen. Es ist ein Medusengesicht, und wir sind ein vergeßliches Volk. Kunst? Medusen schminkt man nicht.“2

„Zurückblicken, ohne zu erstarren“! Was für eine Forderung – und zugleich: Was für eine Zurückhaltung! Kästner selbst hält sich an die kleine Form, reflektiert sein eigenes Erleben und beschränkt sich weitgehend auf die Publikation seines Tagebuches zu diesem Thema.
Die Überlebenden von Auschwitz und anderen Lagern, von Primo Levi und Imre Kertesz über Elie Wiesel bis Jean Améry, wurden durch ihre Erlebnisse glücklicherweise nicht gehindert, diese literarisch zu formen und ihre Traumata auf diese Weise in Worte zu fassen.

4
In einem Gespräch zwischen Elie Wiesel und Jorge Semprun versuchen beide, sich dem Erinnern und seinem Ausdruck in Worten anzunähern. 

Elie Wiesel: „Schweigen ist verboten, Sprechen ist unmöglich. Ich hatte immer die Angst, mein Gedächtnis zu verlieren. Ich weiß, daß das Gedächtnis immer sehr gefährdet ist. Es läßt nach. Gibt es Dinge, die ich vergessen habe? Gibt es Gesichter, die nicht mehr in meinem Gesicht, in meinem Blick sind? Gibt es Gesten, die nicht mehr da sind, zu denen ich keinen Zugang mehr habe? Also, was tun? Was soll man tun, um alles zu sagen, um das sagen zu können, was gesagt werden muss? Der Schriftsteller, der ich bin und der du bist, kann einfach nicht umhin, sich diese Fragen zu stellen.
Jorge Semprun: „Als Schriftsteller spreche ich von meiner Beziehung zum Schreiben. Eine Zeitlang, fünfzehn Jahre lang, mußte ich schweigen, um zu überleben. Das ist übrigens eine weit verbreitete Erfahrung. [...] Nach dem jeweils letzten Buch habe ich noch mehr zu sagen als vor dem ersten. Als ob das Vergessen so vollständig gewesen wäre, daß es der Arbeit des Schreibens, der bewußten Erforschung der Vergangenheit bedurft hätte. Bilder, Erinnerungen, Gesichter, Anekdoten, ja selbst Empfindungen kehren zurück. Daher meine Theorie, daß es ein unerschöpfliches Schreiben ist, zugleich möglich und unerschöpflich. Man kann etwas sagen, wird aber nie alles gesagt haben. Man kann jedes Mal mehr sagen.3

Schweigen und Sprechen stehen im Erinnerungsprozess in einem schwankenden, einem ambivalenten und spannungsreichen Verhältnis. Wer sich erinnern will, muss seine je eigene Balance finden. 

Spiegel auf U-Bahnsteig, Dahlem, Berlin, 2014.

5
Welches auch immer die Balance von Paul Celan war, er hat eines der meiner Meinung nach eindrücklichsten Gedichte geschrieben, die das Lager erinnern. Seine „Todesfuge“ beginnt er:

„Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken

Womöglich ist es diese "schwarze Milch" der Erinnerungen, die er nicht austrinken kann, die ihn nährt, die ihn vergiftet, die immer da ist und sich in seine Gedichte gießt, damit wir sie kennen.

Durch unser Mit-Erinnern und unser Nach-Erinnern stellen wir uns an die Seite der Opfer, wir schauen, um zu schweigen und um zu sprechen – und nicht um zu erstarren. 


1  A. Klein, Über die Zeit III. 1989.
2
  E. Kästner, Notabene 45. Ein Tagebuch. Frankfurt a.M. 1980, 11f.
3
  J. Semprun / E. Wiesel, Schweigen ist unmöglich. Frankfurt a.M. 1997, 18f.20.