Dienstag, 7. Januar 2014

Restspiritualität

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Reste – nicht mehr voll Taugliches, vom Ganzen übrig gebliebene Bruchstücke, nur gerade so noch verwendbare Teile, nicht verkäufliche Posten aus dem hintersten Teil des Lagers, hinausgeworfene Fetzen, Randständiges, Bodensatz, Müll.
Reste – armselig, verbraucht, ungewollt, liegengeblieben, ausgebrannt, problematisch, uninteressant.

Tortenrest, Neukölln, Berlin, 2013.
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Biblisch gibt es zwei verschiedene Sichten auf Reste und ihre spirituell-theologischen Ausdeutung.
Zum einen ist da der Blick auf den „heiligen Rest“ des im Exil lebenden Volkes Israel und seine künftige Bedeutung. Es sind jene, die ausgehalten haben und dafür von Gott erhöht werden. „Dann ist der Rest Jakobs inmitten vieler Völker wie der Tau, der vom Herrn kommt […]. Unter den Nationen, inmitten vieler Völker, ist dann der Rest Jakobs wie der Löwe unter den Tieren im Wald […]“ (Mi 5,6f). In dieser Perspektive ist es nicht der Rest im oben beschriebenen Sinne, sondern die Verdienten und Brauchbaren bekommen nun einen Lohn zugesprochen. Wer gut ist, gehört dazu: „ein Rest kehrt um zum starken Gott, […] nur ein Rest von ihnen kehrt um.“ (Jes 10,21f)

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Die andere Sicht, graduell von der ersten abgestuft, ist geprägt von einer Verschiebung hin zum Tun Gottes am unwürdig-geheiligten Rest: „Ich mache die Hinkenden zu einem heiligen Rest und die Schwachen zu einem mächtigen Volk.“ (Mi 4,7) Gott selbst sammelt seines Volkes Reste wieder, um vor der Welt ein Zeichen zu setzen. Auch für Paulus gibt es aus spezifisch christlicher Perspektive „einen Rest, der aus Gnade erwählt ist“ (Röm 11,5) im Volk Israel.

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Die Praxis Jesu ist analog zum Tun eines solchen, aus Gnade berufenden Gottes: „Die Vorliebe Jesu galt auffallend oft den sogenannten einfachen Leuten, den Unbedeutenden und Machtlosen. […] In Menschen, die wie Abfall behandelt wurden, konnte er Kostbares entdecken. […] Im Abfall entdeckt er Wunderbares, im Verworfenen Zauberhaftes, im Verstummten und Erstickten die geheimnisvolle Schönheit einer noch nie gehörten Poesie.1 
Drastisch gesagt: Jesus ist ein kreativer Lumpensammler.

Teresa Murak, Lappenrest [Ausschnitt aus:
Ścierki wizytek], Zachęta, Warschau, 2013.
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Auch die ersten Gemeinden werden von Paulus so beschrieben: „Da sind nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme, sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt […], und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt […]. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist […].“ (1Kor 1,26ff) Gott scheint ein Faible zu haben für scheinbar unnütze Reste.

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Ähnliches treibt viele KünstlerInnen des 20. Jahrhunderts. Auch sie sprechen weggeworfenen und aufgegebenen Dingen neuen Wert zu. Meret Oppenheim nennt solche Dinge „Fragmente eines alten Palastes“, die sie für ihre Objekte und Skulpturen nutzt.
Durch einen anderen, einen weiter gefassten Blick auf das Übriggebliebene hat auch Kurt Schwitters „im Abfall, im Verworfenen und Unscheinbaren etwas Außerordentliches wahrgenommen. Er hat durch seine Kunst den Blick dafür geöffnet, dass sich in all dem eine Poesie verbirgt, eine bis dahin nicht erkannte Schönheit.2 In gewissem Sinne beschreiten KünstlerInnen auf diese Weise den Weg Gottes, wenn sie sich mit den „Zivilisationsmüll“ verwerten und „Alten Resten eine Chance“ geben: Die Bibel beschreibt den Weg Gottes als Wendung zu den Armen. Sie beschreibt Gottes Weg als Menschwerdung, als Eingehen in Schwäche und Verwundbarkeit. Und sie beschreibt ihn als Durchgang durch Leid und Tod in eine neue Schöpfung. Die Kunst der Gegenwart wie des 20. Jahrhunderts hat wesentlich mit diesen Kernaussagen zu tun. Sie hat sich selbst auf diesen Weg gemacht. Das zeigt sich jedoch auf eine völlig neue und überraschende Weise. Den Künstlerinnen und Künstlern ist es zu verdanken, dass inmitten einer Konsum- und Erfolgsgesellschaft dem als gering und wertlos Geltenden Würde und Ansehen geschenkt wird.“3

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Damit ist schließlich der gesellschaftliche Aspekt angesprochen. Auch hier gibt es seit den letzten Jahrzehnten die Tendenz zur Wiederverwertung: allerorten werden „Nachnutzungskonzepte“ erstellt, mit Recycling von Zahngold bis Altglas lässt sich Geld verdienen und selbst der energetisch ausgeschlachtete Dung führt Altes immer neu in den ewigen Kreislauf ein.

Blumenrest, Neukölln, Berlin, 2013.
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Und der Mensch? „Würde und Ansehen“? Der ökonomische Blick trübt die Empathie.4 Unter dem Eindruck wachsender ökonomisch-sozialer Ungleichheit und Automatisierung der Arbeitsprozesse erscheinen manche Menschen(gruppen) entbehrlich: Sie „kämpfen darum, nützlich zu bleiben, wesentlich zu werden, im Wettbewerb zu bestehen, den drohenden Absturz in die soziale Irrelevanz und materielle Unterversorgung zu vermeiden.“5

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Wer allerdings prekär lebt und abgehängt ist, bleibt auf Almosen angewiesen. Das biblische Beispiel des armen Lazarus illustriert die Hoffnung auf die Reste des reichen Mannes: „Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel.“ (Lk 16,21)
Dies bleibt ihm ebenso entzogen wie soziale Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe, die wichtigen menschlichen „Währungen“, die im Sozialstaat mehr und mehr in den Blick rücken.

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Die Ausschließlichkeit von Nützlichkeit und Brauchbarkeit scheinen, auf das Vorige zurückgreifend, nicht Gottes Maßstab zu sein. Gott ist nicht nur ein Resteverwerter, der noch etwas rausholen will. Vielmehr hat er einen liebevollen, nicht nur entrümpelnden oder ausschlachtenden Blick auf Dinge und Menschen. Das Unscheinbare, Verlorene und Verbrauchte birgt mehr in sich, birgt Wert und Würde.
Vielleicht wäre das der Beginn einer Restspiritualität.


1   G. Schörghofer, Drei im Blau. St. Pölten, Salzburg, Wien 2013, 49.

2   Ebd., 50. „Kurt Schwitters war der erste Künstler, der systematisch die von anderen weggeworfenen Dinge in Kunstwerke verwandelte. Er verwendete Papierabfälle aller Art, verworfene Probedrucke, Drucksorten, Plakate und Zeitschriften. Sie wurden nicht übermalt, sondern beschnitten und so zusammengeklebt, dass sich eine Gestalt ergab, ein poetisches Gebilde. Auch aus wirr erscheinenden Wörtern und Buchstaben schuf Schwitters sprachliche Gebilde von wunderbar poetischer Kraft.“ (Ebd., 48)

3   G. Schörghofer, Biennale 2013: Alter Stuhl und neue Kunst. In: StdZ, 12/2013, 793-794; hier: 794.

4   Vgl. I. Trojanow, Der überflüssige Mensch. St. Pölten, Salzburg, Wien 4. Aufl. 2013, 77, 85.


5   Ebd., 28.