Freitag, 14. Februar 2014

Gorbatschow - Franziskus - Parallelen?

Bei der immensen Aufmerksamkeit, welche die Arbeit von Papst Franziskus genießt, stellte sich mir dieser Tage die Frage nach einer Parallele – jener möglichen und fraglichen Parallele zwischen Franziskus und Michail Gorbatschow.
Wie weit die Parallele letztlich auszuziehen ist, kann ich mit meinem begrenzten Blick gar nicht abschließend sagen – und ich will auch keine inhaltliche Ähnlichkeit der Systeme insinuieren.
Weil die Frage selbst vielleicht nicht sofort einleuchten mag, beginne ich einfach, einige Ähnlichkeiten zu beleuchten – um dann aber auch die Unterschiede zu markieren, die ich sehe.
(Aus Gründen der Lesbarkeit verbleibe ich zunächst grammatisch im Präsens, auch wenn sich dieser im Fall der UdSSR und ihres Führers erledigt hat.)

1
Es geht um die Leitung riesiger, bisweilen unübersichtlicher, international agierender Institutionen, im einen Fall um die untergegangene Sowjetunion, im anderen Fall um die römisch-katholische Kirche. Die Leitung wird in unterschiedlicher Weise ausgeübt durch verschiedene Institutionen wie das Politbüro, das Zentralkommitee, den Ministerrat – bzw. das Kardinalskollegium, das Staatssekretariat, die Kurie. Wie viel Macht diese Einrichtungen haben, wird aber stark bestimmt von der jeweiligen Person an der Spitze – weniger durch konsitutionelle Festschreibung.
Letztlich fokussiert sich nämlich nicht nur die Aufmerksamkeit auf die führende Person, sondern auch die Machtkonzentration ist gebündelt in einem Amt, bzw. in einer Person, die als aktuelle Personifizierung des Amtes erlebt wird, also auf den Generalsekretär des ZK der KpdSU bzw. den Papst. Beide Personen haben in Personalunion auch noch andere Ämter und Titel, werden von außen aber zuerst in dieser genannten Funktion wahrgenommen.

2
Es besteht ein großes Medieninteresse am aktuellen Amtsträger. Das ist angesichts der Zentralität der Person im System bis zu einem gewissen Grad normal, allerdings werden sowohl Gorbatschow als auch Franziskus in besonderer Weise auch als Hoffnungsträger wahrgenommen. Viele Wünsche nach Veränderung werden auf sie projiziert, denn das schwächelnde System braucht frischen Wind, die Themen Demokratisierung und Teilhabe prägen das Klima. Als Gegner von Perestroika und Kirchenreform erscheint allgemein "der Apparat", also die Kommunistische Partei1 bzw. die kurialen Behörden des Vatikans.
Demonstrative Handlungen unterstreichen den Neuerungswillen der beiden Leitungspersonen, dazu zählen das Auswechseln von Amtsträgern oder das öffentlichkeitswirksame Wenden nach außen – ohne dass dies als Ausfegen wahrgenommen würde.
S-Bahnschild, Steglitz, Berlin, 2014.
Beide fallen durch ihre Freundlichkeit auf und es wird bemerkt, dass sie auch bei der vorherigen Amtsübergabe schon im Gespräch waren. Auf die lange Regentschaft Breschnews folgten in der UdSSR jefdoch erst noch die beiden greisen Übergangsgeneralsekretäre Andropow und Tschernenko, in der römisch-katholischen Kirche sorgte nach dem polnischen Rekordpapst Wojtyła ab 2005 Joseph Ratzinger für Kontinuität.
Eine schwierige Frage ist der Personenkult – die katholische Kirche hatte damit in jüngster Zeit schon mehr zu tun als heute, v.a. im Umfeld des Todes von Johannes Paul II., selbiges gilt für die Sowjetunion nach Stalin, wenngleich das Aufstellen von Büsten und das Umbenennen von Straßen und Plätzen mit Breschnew eine neue Blüte erreicht. Gorbatschow und Franziskus sind Teil dieses Systems, sie grenzen sich nicht hart ab, halten aber weitgehend Distanz zu diesen Auswüchsen.

3
Der Wunsch nach Veränderung und Reform ist an vielen Ecken der Institution greifbar. Wider den euphorisierenden medialen Eindruck aber handelt es sich bei Papst Franziskus und Michail Gorbatschow um konservative Reformer. Beide wollen nichts Zentrales aufgeben, sondern das verkrustete und zu Teilen marode System von den Quellen her erneuern.
Gorbatschow bezog sich immer wieder sehr ausdrücklich und positiv auf Lenin und sprach noch 1990 davon, dass das Ziel seiner Reformen die Umsetzung der sozialistischen Idee bleibe.2 Eine ökonomische Kehrtwende in einem nahezu bankrotten Staat sieht anders aus. Zu dieser Zeit zeigte sich in den Ländern des Ostblocks schon sehr deutlich der Verfall der kommunistischen Staaten zugunsten demokratisch-marktwirtschaftlicher Modelle.
Auch Papst Franziskus wird nach Meinung vieler Beobachter wohl weder in der Sexualethik noch bei den Zugangsvoraussetzungen zum Priesteramt, zwei äußerst hochgehandelten kirchlichen Konfliktfeldern, grundsätzliche Umbrüche verkünden. Vielmehr steht die Zuwendung zur zentralen Leitfigur des Christentums, zu Jesus Christus, im Vordergrund.
Beide stehen zwischen den an sie herangetragenen hochfliegenden Erwartungen und den eigenen Intentionen einer Erneuerung durch Konzentration auf Kerninhalte.

4
Zu den Unterschieden (mit einem halben Tempuswechsel): Die katholische Kirche ist kein Staat und funktioniert nicht wie ein solcher. Dementsprechend sind Intentionen und Handlungsoptionen des Papstes andere als die eines Staatslenkers. Wenn sich die sowjetischen Machthaber in der ganzen Welt Verbündete und Abhängige suchten und schufen, damit dem Kommunismus weltweit zum Sieg verholfen werde, so hat die Kirche auf ihre Mitgliedern in allen Ländern einen deutlich geringeren Einfluss und zumal einen eher moralischen als wirtschaftlichen.
Innerhalb der katholischen Kirche existiert zudem kein mächtiges Feindbild als Gegenüber, an dem sich abzuarbeiten wäre. Wohl gibt es Kritik an gesellschaftlich verbreiteten Prozessen und Haltungen wie Individualismus und Relativismus3 auch von Papst Franziskus, dies wird aber nicht an einer gegnerischen Institution fest gemacht.

5
Franziskus war vor seiner Wahl zum Papst als Erzbischof und Kardinal zwar ein hochrangiger Inhaber von Amtsgewalt, aber er wirkte nicht in lokaler Nähe zum Zentrum der Macht, sondern lebte als Erzbischof in Argentinien.
Gorbatschow dagegen war in den Jahren direkt vor seiner Amtsübernahme schon im Moskauer Politbüro tätig. Die Befasstheit mit gesamtsowjetischen Fragen war ihm als Zuständigen für die Agrarwirtschaft im engsten Führungszirkel stets greifbar.
Tür und Mauer, Moabit, Berlin, 2014.
Für Gorbatschow sprach bei der Suche nach einem Nachfolger für Tschernenko vor allem seine Jugend, von der man neben seiner Erfahrung und dem Charisma tatkräftige Wirkungen erhoffte.
Mit Jorge Bergoglio haben die Kardinäle ihrerseits einen nur unwesentlich jüngeren Nachfolger für Papst Benedikt XVI. gewählt, auch seine Gesundheit ist durch die Amputation der halben Lunge nicht sonderlich hoffnungerweckend.

6
Schließlich die Folgen. "Im Westen vermutete man, dass Gorbatschow – absichtlich oder nicht – das kommunistische System schwäche und es liberalen Gedanken zugänglicher mache."4 Die Folgen sind bekannt, in den Wirren der 1990er Jahre bereicherten sich einige Wenige beträchtlich am Restvermögen der untergegangenen Sowjetunion, die alten Eliten kamen zumeist gut unter – und die autoritäre Staatsführung unter Putin hat viele demokratische Hoffnungen zunichte gemacht.
Für die katholische Kirche bleiben die Folgen des mentalen und spirituellen Aufbruchs unter Franziskus noch offen. Welche Begehrlichkeiten und Hoffnungen weckt Franziskus mit seiner Reformrhetorik? Hält die Kirche dies ohne größere Spaltungen aus? Für die Sowjetunion gilt, dass die "Perestroika interne Probleme im Land entfesselt hatte, denen mit Gewalt nicht beizukommen war"5 – und auch nicht mit Gorbatschows Reformversuchen.
Welche Dynamik Franziskus mit seinem neuen Stil und seinen tatsächlichen Änderungen letztlich auslösen wird, bleibt abzuwarten. Mit wechselnden Führungsstilen kennt sich die Kirche aus – und eine geklärte Nachfolgeregelung kann sie ebenso bieten wie eine (regional verschiedene, aber nichtsdestotrotz) stabile Bindung ihrer Mitglieder. Frustrationen hoher Erwartungen und enttäuschte Hoffnungen sollten da auszuhalten sein.



1Vgl. D. Wolkogonow, Die sieben Führer. Aufstieg und Untergang des Sowjetreichs. Frankfurt 2001, 469.
2Vgl. ebd., 458.
3Vgl. Papst Franziskus, Die Freude des Evangeliums. Das Apostolische Schreiben "Evangelii Gaudium" über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute. Freiburg i.Br. 2013, 63.64.67 u.ö.
4Vgl. D. Wolkogonow, a.a.O., 489.
5Ebd., 520.