Samstag, 5. April 2014

Makabrer Wettlauf

Masten, Plänterwald, Berlin, 2014.
Du sprachst vom Schiffe-Verbrennen
– da waren meine schon Asche –,
du träumtest vom Anker-Lichten
– da war ich auf hoher See –,
von Heimat im Neuen Land
– da war ich schon begraben
in der fremden Erde,
und ein Baum mit seltsamem Namen,
ein Baum wie alle Bäume,
wuchs aus mir,
wie aus allen Toten,
gleichgültig, wo.

von Hilde Domin1

Ihr Fortgehen aus der deutschen Heimat, das Leben in der Dominikanischen Republik und die späte Rückkehr nach Deutschland haben Inhalte und Sprachwelt der Gedichte Hilde Domins intensiv geprägt.
Während noch die Rede ist von den Schiffen, den Ankern und dem Neuen Land, hat die Wirklichkeit bereits Asche hervorgebracht, die See hat auf fremde Erde gespült und diese ist als Grab inzwischen Wurzelgrund eines Baumes.

Manchmal brechen sich die Ereignisse so schnell Bahn, dass die Sprache nicht hinterherkommt, dass alle vorherigen Planungen weggespült werden – und der Tod aller Wünsche Ende zu sein scheint. Dem harten Weg immer einen Schritt voraus.

Dann bewirken die "seltsamen Namen" der Dinge, die fremden Begriffe und unbekannt-verwirrenden Logiken zwar noch Verwunderung, der Baum selbst aber steht einfach da.
Der Wettlauf hat das Ende überholt. Die Kraft der Toten gebiert Leben.

(Wer will, kann hier schon eine Art Ostern erkennen.)

Baum, Treptower Park, Berlin, 2014.

Politisch gewendet wage ich immer noch zu hoffen, dass es nicht immer wieder so weit kommen muss. Mit Blick auf Ruanda vor zwanzig Jahren und Syrien in diesen Monaten frage ich mich aber, ob der berühmte Strudel der Ereignisse nicht sowieso immer schneller ist als die politischen Debatten und Auswege. Ob es nicht sowieso immer schon zu spät ist und vor allem: wie leidsensibel die Politik der westlichen Welt sich denn zu sein erlaubt. Müssen immer erst die Toten mahnen? Gibt es keine andere Kraft, die den Tod aufhält? Es scheint, dass der Gang der Geschichte tatsächlich meist bloß ein makabres Baumwachstum hervorbringt.


 
1  In: H. Domin, Nur eine Rose als Stütze. Gedichte. Lizenzausgabe Frankfurt a.M. 1994, 38.