Samstag, 20. September 2014

Was von Jehovas Zeugen zu lernen wäre

Vielleicht beruhte mein eleganter Hochmut ja nur auf einem Missverständnis. Vielleicht ist das Ganze ja bewusst und gewollt und der bisherige Eindruck einfach falsch: Vielleicht lässt sich von den Zeugen Jehovas in ungeahnter Weise Demut lernen.

Meine Blickrichtung hat sich umgedreht, als ich am Ende von Martin Walsers Briefroman "Das dreizehnte Kapitel" diese Aussage las:
Herz-Jesu-Kirche am Platz, Weimar, 2014.
"Er hat erzählt: Als Zeuge Jehovas Zeitschriften anzubieten, das ist Karriere. Weiter kannst du es nicht bringen, als von den vorbeieilenden Menschen übersehen zu werden. Das ist nämlich berauschend. Diese von Absichten Versklavten! Mitgerissen sehen die meisten Vorbeitreibenden aus. Und er steht am Ufer des Stroms, der alle und alles mitreißt. Er hat dieses ungeheure Privileg, zuschauen zu können, entzogen zu sein diesem Strom, der Menschen zu Hölzchen macht, die es nirgendwohin schwemmt."

Ja, das ist es doch: Außerhalb des Rauschens bleiben. Sich nicht vereinnahmen lassen. Die Lockungen der Welt nicht spüren und stattdessen: Gelassen am Ufer des Stroms stehen.

Sicher ist das nicht die erste Intention der sittsam gekleideten Damen und Herren am Straßenrand, aber aus der Perspektive der geplanten Zwecklosigkeit und Distanz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit gewinnt das unbeachtete Stehen am Rande einen neuen Sinn.

Es klingt verlockend, sich einfach mal an den Rand stellen zu können und übersehen zu werden. 

Oder ist der Gedanke "entzogen zu sein diesem Strom" der neue Hochmut? 
Etwas im Sinne von: "Weil ihr fortgerissen seid und im Strom schwimmt, kann ich hier stehen und festen Grund unter den Füßen haben. In meinem Stehen an Gottes Herzen und an diesem Straßenrand werdet ihr zu stromlinienförmigen Geschossen des Flusses."?

Auch unabhängig von der konkret genannten Gruppe: Eingespannt in derlei Gedanken schmölze die Freiheit von der Welt in neuerliche Gefangenschaft. Der Stolz auf das Privileg des Schauens zerstörte dann die Gelassenheit und das Stehen wäre Stehen im Moder.

Also: Auf in die Fluten. Nicht treiben, nicht stehen. Sondern mit Kraft zur Quelle. 

Pferdegeschirr, Kutschen-Schöne, Rixdorf, Berlin, 2014.