Donnerstag, 27. November 2014

Der Welle Tod – Gedanken über "Schweigeminute" von Siegfried Lenz

Jetzt, kurz nach dem Tod von Siegfried Lenz, habe ich eine seiner letzten Novellen gelesen, die Liebesgeschichte "Schweigeminute".1 Darin erzählt Lenz die Beziehung des Schülers Christian zu seiner Lehrerin Stella in einem Ostseehafenstädtchen, aufgebaut als Rückblick Christians während der Gedenkstunde anlässlich ihres Unfalltodes.
Es ist eine anrührende und traurige Geschichte, und trotz der recht arglos geschilderten Verstrickungen von Bewertungsmacht der deutlich älteren Lehrerin bei scheinbar leicht sich entspinnender Liebe, ein Faktum, das durch die Aufdeckungen der vergangenen Jahre noch einmal in anderem Licht erscheint, trotz dieser Fragwürdigkeit also war ich ergriffen von der und tiefen inneren Bewegtheit Christians.

Welle unterm Balkon, Altstadt Lublin, 2014.
Ein wiederkehrendes Motiv, das mich beim Lesen besonders ansprach, ist das der Welle und des Wellenbrechens.

Zum einen ist Christians Vater ein Steinfischer, der große Steine vom Meeresgrund fischt, um "den Wellenbrecher zu verbreitern und aufzustocken und die Mole, aus der die Winterstürme manch ein Stück herausgeschlagen hatten auszubessern."2 Christian tut dabei regelmäßig mit und fordert im Verlaufe von seinem Vater sogar eine Art fester Entlohnung für seine Hilfen beim Reparieren der Abwehr zerstörerischer Wellen.

Just aber an der Stelle, die zuvor bearbeitet worden war, "wo wir die letzte Last der Steine versenkt hatten",3 geschieht dann vor den Augen Christians das Unglück: die von einer längeren Fahrt zurückkehrende Stella wird bei der Anfahrt auf den Hafen über Bord geschleudert und zwischen Schiff und Hafenmauer zerquetscht. Weder die Tatsache, dass sie eine ausgezeichnete Schwimmerin war,4 half ihr, noch die wellenhemmende Arbeit ihres Schülers.

Schließlich erhält Christian vom Vater der Toten eine aufbewahrte Postkarte, "das Photo zeigte einen Delphin, der sich übermütig in die Luft geschnellt hatte und, anscheinend berechnend, auf einer Welle landen wollte."5 Auf der Rückseite der letzte Gruß der Englischlehrerin: "Love, Christian, is a warm bearing wave".6

Liebe, die warm tragende Welle – was für ein Satz angesichts der tötenden Kraft, die zuvor beschrieben wurde, was für eine Behauptung angesichts eines Jungen, als dessen hauptsächliche Beschäftigung im Buch seine Hilfe zum Wellenbrechen beschrieben wird.
Eine geniale literarische Logik, die gegeneinander läuft wie das zurückbrandende Wasser gegen die neu heranflutende Welle.

Sonne hinter der Weide.
Wannsee, Berlin, 2014.
Es sagt wohl einiges über die mögliche Zukunft der Liebe beider aus, wenn die nach und nach erkennbare Wirkung der Arbeit des Wellenbrecherbauens beschrieben wird: es zeigte sich, "wie die in trägem Rhythmus anlaufenden Wellen sich veränderten, sie reckten und überschlugen sich, stürzten zusammen, verflachten blasig, wurden so schwach, daß sie wie erschöpft zerliefen, ohne Kraft, sich einmal zu sammeln, zu erheben."7

Die "selbstverständlich" aufkommende "Sehnsucht nach Dauer",8 die sich in Christian regt, kann da keine Erfüllung finden, kein wellenreitender Delphin erscheint, die ewig sich auf ihrem Höhepunkt brechende Welle wird bei Lenz eher zum Bild des Todes als der Liebe.
Das Fragmentarische dieser Liebe trifft das Bild der Welle also genau.


1   S. Lenz, Schweigeminute. Hamburg 2008.

2   Ebd., 10.

3   Ebd., 102.

4   Vgl. ebd., 29. 48ff.

5   Ebd., 118.

6   Ebd.

7   Ebd., 83.


8   Ebd., 75.