Donnerstag, 26. Februar 2015

Was ist normal? - Kulturkritik im Roman "Herr Jensen steigt aus" von Jakob Hein

Der alleinstehende Herr Jensen steckt nach seiner Entlassung in einer Lebenskrise. Zum einen hat er sein Studium nicht abgeschlossen, da er sich nach und nach immer mehr auf seinen ursprünglich zur Finanzierung des Studiums begonnenen Job als Postbote konzentrierte und nun ohne Ausbildung oder Beruf da steht, zum anderen, weil ihm nur wegen seiner langanhaltenden Tätigkeit gekündigt wird, und er fest übernommen werden müsste, was sich die Firma nicht leisten kann. Dergestalt vom Arbeitsmarkt ausgespuckt beginnt er, wie viele Menschen mit seinem Schicksal, exzessiv fernzusehen. Nach und nach durchsucht der pedantische und ordnungsliebende Einzelgänger das Fernsehprogramm nach einem versteckten Sinn, zeichnet auf, vergleicht, notiert, führt Listen. Plötzlich kommt ihm die Erkenntnis:

Ist das normal? Schloßpark Lübbenau, 2015.
"Das Ganze war keine zufällige Laune. Alles gehörte zusammen. Die dicken Frauen in Unterwäsche und die unbeholfenen Tanzversuche nuschelnder Jugendlicher. Es ging um moralische Normen. Doch während man diese früher in Kursen erlernen oder in Benimmbüchern nachschlagen konnte, wurden sie nun auf diese vollkommen andere Art vermittelt. Früher war einem gesagt worden, wie man zu leben hatte. In den Sendungen, die Herr Jensen in den letzten Monaten studiert und analysiert hatte, konnte man statt dessen sehen, wie man nicht mehr leben durfte. Darum war es auch möglich, dass dieselben Menschen immer andere extreme Standpunkte vertraten. Sie dienten nur als Mensch gewordene schlechte Beispiele."1

Ich finde eine solch ironische Interpretation der Medienlandschaft sehr unterhaltsam – nicht, wie man eigentlich leben sollte, wird gezeigt, sondern gerade das Gegenteil. Soziale Atomisierung und nachlassende Prägekraft gesellschaftstragender Institutionen hinterlassen ein Vakuum, das irgendwie gefüllt werden muss. Die negativ vermittelten Normen des Fernsehens formuliert Herr Jensen aber auch positiv:

"Und er schrieb auf einen Zettel, was demzufolge normal sein sollte:

Man sollte arbeiten gehen.
Man sollte eine Frau oder zumindest häufig Sex haben.
Man sollte viele Freunde haben.
Man sollte die aktuelle Mode kennen.
Man sollte Ahnung von Musik haben.
Man sollte fröhlich sein.
Man sollte Geld haben.
Man sollte schön sein.
Man sollte etwas mit sich anfangen.
Man sollte Träume haben.

Herr Jensen stellte fest, dass er nicht normal war. Er seufzte erschöpft. Herr Jensen konnte sich nicht erinnern, jemals etwas falsch gemacht zu haben. Stets hatte er getan, was ihm gesagt worden war, und niemals war er rebellisch geworden. Trotzdem musste er nun erkennen, dass er am Rand der Gesellschaft stand."2

Egal, wie man sich zu den konkreten Inhalten der Analyse stellt – es ist eine interessante Frage zur Fastenzeit: Was ist normal in unserer Gesellschaft? Welche Werte werden vorgelebt, welche Normen stehen zur Debatte, welche Tabus pflegen wir? Finden sich genügend Menschen in dem Geflecht der Meinungen und Wertsetzungen wieder? Wo sehen sich die Christen? Manch einer dreht die Moral der täglichen Sitcom sicher nicht um, wie es Herr Jensen tut, sondern begnügt sich mit der so dargestellten Weltsicht. Andere gehen gegen den so genannten Mainstream auf die Straße oder beschimpfen Presse und Politik für die vertretenen Inhalte vom Sofa aus.

Persönlich kann ich mich fragen, ob meine eigene Perspektive eher die eines Randständigen ist oder eines Mittenmenschen. Welche Werte halte ich für grundlegend? Und wie stehen sie zu dem, was ich in politischen Äußerungen oder in Unterhaltungsmedien sehe? Fühle ich mich korrumpiert oder bestätigt? Inspiriert oder angewidert?
Welche Normalität wünschte ich mir? Und welche Normalität ist der nahen Lebenswelt Gottes am angemessensten?

Die Uhr zeigt, wie es ist. Plänterwald, Treptow, Berlin, 2014.

1   Jakob Hein, Herr Jensen steigt aus. München 5. Aufl. 2006, 82.


2   Ebd., 83.