Montag, 4. Mai 2015

Dem Grenzenlosen preisgegeben - Glaube, Wissenschaft und Wahnsinn in Remarques "Der schwarze Obelisk"

Es gibt Momente, in denen Menschen eine Art neuer Offenbarung der Realität haben. Die Dinge und Menschen um sie herum bekommen eine neue Qualität und erscheinen in anderem Licht. Das Vorzeichen der Welterfahrung ändert sich, vielleicht nur für Augenblicke, vielleicht so lebensprägend, dass einer für sein Leben gezeichnet ist.

Ich habe solche Momente in den letzten Wochen hier in meinen Gedanken zum Film "Superwelt" und zum Roman "Stoner" beschrieben. Möglicherweise liegen solche Momente auch den biblischen Erzählungen der Begegnungen mit dem Auferstandenen bei den Emmausjüngern oder beim skeptischen Thomas zugrunde. Ich persönlich erlebe das manchmal in den atemberaubenden Augenblicken, wenn mir klar wird, was für ein Wunder dieses Kind ist, dessen Vater ich jetzt seit einem halben Jahr bin.

Kanalisierung. Augusteum, Wittenberg, 2015.
Ein literarisches Schmuckstück stellt diesbezüglich eine Szene in Erich Maria Remarques Roman über die Zwischenkriegszeit "Der schwarze Obelisk" dar.
Der Ich-Erzähler Ludwig, ein junger Skeptiker und beruflich erfolgloser Kriegsheimkehrer, der während der Zeit der galoppierenden Inflation nahe dem titelgebenden schwarzen Obelisken wohnt, verdient sich ein Zubrot als Organist im Irrenhaus (so die Bezeichnung Remarques). Dort hat er gelegentlich auch die Möglichkeit eines kostenlosen Abendessens mit dem Pfarrer und dem Anstaltsarzt.
An einem gewittrigen Abend und im Anschluss an eine bittere Diskussion über die Liebe Gottes und das Leid in der Welt wird folgende Szene geschildert:

"Ich habe plötzlich keine Lust mehr zu essen und stehe auf und gehe ans Fenster. Hinter den bewegten schwarzen Wipfeln ist eine Wolkenwand mit fahlen Rändern emporgewachsen. Ich starre hinaus. Alles scheint auf einmal sehr fremd, und hinter dem vertrauten Gartenbild drängt ein anderes, wilderes schweigend hervor, das das alte wegstößt wie eine leere Hülse."1

Es hat den Protagonisten also gepackt, er spinnt in diesem tranceartigen Zustand seine zunächst an Platon erinnernden Gedanken weiter auf der Suche nach der "Urlandschaft, bevor sie zur Landschaft unserer Sinne wurde ... Wissen wir noch etwas davon? Oder sind wir gefangen in einem Netz von Begriffen und Worten, von Logik und täuschender Vernunft, und dahinter stehen die einsam lodernden Urfeuer, zu denen wir keinen Zugang mehr haben, weil wir sie in Nützlichkeit und Wärme verwandelt haben, in Küchenfeuer und Heizung und Schwindel und Gewissheit und Bürgerlichkeit und Mauern und allenfalls in ein türkisches Bad schwitzender Philosophie und Wissenschaft? Wo sind sie? Stehen sie immer noch unfassbar und rein und unzugänglich hinter Leben und Tod, bevor sie Leben und Tod für uns wurden, und sind vielleicht nur die, die jetzt in diesem Hause in ihren vergitterten Zimmern hocken und schleichen und starren und das Gewitter in ihrem Blut fühlen, ihnen nahe? Wo ist die Grenze, die Chaos von Ordnung scheidet, und wer kann sie überschreiten und zurückkommen, und wenn es ihm gelingt, wer weiß dann noch etwas davon? Löscht das eine nicht die Erinnerung an das andere aus? Wer ist der Gestörte, Gezeichnete, Verbannte, sind wir es mit unseren Grenzen, mit unserer Vernunft, unserem geordneten Weltbild, oder sind es die anderen, durch die das Chaos rast und blitzt, und die dem Grenzenlosen preisgegeben sind wie Zimmer ohne Türen, ohne Decke, Räume mit drei Winden, in die es hineinblitzt und stürmt und regnet, während wir anderen stolz in unseren geschlossenen Zimmern mit Türen und vier Wänden umhergehen und glauben, wir seien überlegen, weil wir dem Chaos entkommen sind?"2

Es hat mich in den Fingern gejuckt, diesen herrlichen Text zu unterbrechen und zu kommentieren, aber er soll als Ganzer hier stehen. Ich glaube, für solchen Anspielungsreichtum sind die mittelalterlichen Glossen rings um einen Fließtext erfunden worden.
Ring im Dickicht. Kiehlufer,
Neukölln, Berlin, 2015.

Denn die Fragen des Textes stellen sich religiösen Menschen ja ganz unmittelbar: Sind wir mit der Domestizierung des Heiligen so weit vorangeschritten, dass wir es gar nicht mehr spüren? Hat Gott noch eine Chance, uns zu erreichen zwischen Küchenfeuer, Heizung und Mauern? Sind wir Gottes alles durcheinanderwirbelnden Chaos tatsächlich entgangen – oder sind wir, wie Nietzsche schrieb, noch fähig, "einen tanzenden Stern zu gebären"?

Remarques Antwort folgt auf dem Fuße:
"Ich drehe mich um. Der Mann des Glaubens und der Mann der Wissenschaft sitzen unter dem Licht, das sie bescheint. Die Welt ist keine vage, zitternde Unruhe für sie, kein Murren aus der Tiefen, kein Wetterleuchten aus eisigen Ätherräumen – sie sind Männer des Glaubens und der Wissenschaft, sie haben Senkblei und Lot und Waage und Maß, jeder ein anderes, aber das ficht sie nicht an, sie sind sicher sie haben Namen, die sie wie Etiketten auf alles kleben können, sie schlafen gut, sie haben einen Zweck, das genügt ihnen, und selbst das Grauen, der schwarze Vorhang vor dem Selbstmord, hat seinen wohlgeordneten Platz in ihrem Dasein, es hat einen Namen und ist klassifiziert und damit ungefährlich geworden."3

In unserer Zeit scheint mir das eine spannende Gleichsetzung von Wissenschaft und Glaube zu sein. Klassifizierer unter sich, die kein Leuchten außerhalb ihres Lampenscheins kennen wollen.
Denn auch wenn Christen auf Gott vertrauen mögen, stellt sich doch die Frage, ob all unsere Christlichkeit nicht zu oft im beruhigenden Licht bleibt, in dem wir glauben, alles begreifen und erklären zu können, gerade auch Theologen.
Brauchten wir nicht viel öfter diese heilsame Unruhe, von der Remarque schreibt – und die ja auch Papst Franziskus mit seinen Rufen zum Aufbruch einfordert? Ist da nicht allzu oft zu viel Selbstgewissheit und viel mehr Antwort als Frage? Ich meine, dass Remarque hier ein glänzendes Stück Literatur zur theologischen Erkenntnistheorie beigesteuert hat. Durch sie öffnet sich ein Zugang zur apophatischen Theologie, die sich auf ihren Frage-Weg macht, um das Unsagbare Gottes wieder in den Blick zu nehmen.

Vielleicht ist das ja eine heilsam-beunruhigende Herausforderung für uns, um uns neuerlich dem Grenzenlosen preiszugeben.

Chaos wagen. Neukölln, Berlin, 2015.

1   E.M. Remarque, Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend. Köln 1998, 95.
2   Ebd.

3   Ebd., 96.