Samstag, 30. Mai 2015

Nachkriegswehen – Literarische Zeugnisse vom Weiterleben

Vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Doch den jetzt nach und nach sterbenden Generationen der Menschen, die ihn unmittelbar erlebten, steckt er noch in den Knochen. Welche Veränderungen der Krieg in einem Leben bewirkt hat, hängt wohl weitgehend vom psychischen Grundgerüst ab, mit dem die verschiedenen Widerfahrnisse verarbeitet werden müssen.

Ich habe in den letzten Monaten mehr oder weniger zufällig literarische Zeugnisse aus mehreren unterschiedlich in den Krieg verstrickten Nationen gelesen, die das nachträgliche Spuken in verschiedener Weise thematisieren. Einige (nicht exemplarische!) möchte ich kurz vorstellen:

Hochbunker im Kraftfutterumfeld. Bremen, 2015.
In dem amerikanischen Roman "Stoner" von John Williams heißt es über die Zeit kurz nach dem Krieg an einer kleinstädtischen Universität: "Die Kriegsveteranen kehrten zurück und brachten eine neue Qualität mit, die es vorher nicht gegeben hatte, eine Intensität und einen Trubel, die zu einer wahrhaften Verwandlung führten."1 Diese "neue Qualität" zeigt sich als ein tieferer Ernst der G.I.s und zugleich als eine Distanz vom Banalen.

In Patricks Modianos "Die Gasse der dunklen Läden" wiederum findet ein Franzose seine Identität nach dem Krieg nicht wieder. Er irrt durch einen Roman voller Andeutungen und Schnipsel, die ihm zu guter Letzt ein neues Bild seines früheren Lebens erstehen lassen, in dem er es kriegsbedingt gerade darauf anlegte, nicht erkennbar zu sein. In einem Rückblick philosophiert er über die undeutliche Unvergänglichkeit: "Vielleicht würden wir uns schließlich ganz auflösen. Oder würden zu einem feuchten Atem werden, der sich auf den Scheiben niederschlug, zu diesem zähen Beschlag, der sich nicht wegwischen ließ."2
Sein Ringen um sich selbst bringt ihm zu Bewusstsein, dass sein Leben tatsächlich nicht wegzuwischen war.

Auch "Die schöne Frau Seidenmann" von Andrzej Szczypiorski macht auf Probleme mit erzwungenen Identitätswechseln aufmerksam. Die Jüdin Irma Seidenmann verwirrt sich lange nach dem Krieg in ihrer neu angenommenen Identität als (nichtjüdische) polnische Offizierswitwe. Als sie überraschend Besuch von ihrem Bekannten Dr. Korda bekommt, überfallen Panik und Zweifel sie: sie entschließt sich, "schnellstens die Wohnung zu wechseln. Die Papiere auch. Soll ich Warschau verlassen? Aber wohin? Das hat doch keinen Sinn. Nur in Warschau besitze ich einen Rückhalt, hier sind freundliche Menschen. Und wozu die Wohnung, die Papiere wechseln? Ich heiße doch Maria Magdalena Gostomska, ich bin Offizierswitwe. Bessere Papiere kriege ich nie. Dieser arme Dr. Korda hat keine Ahnung, dass ich Jüdin bin. Bin ich Jüdin? Unsinn! Ich heiße Gostomska. Nie bin ich jemand anderes gewesen. ... 
Sie warf den Kamm geräuschvoll auf die Ablage und wandte sich vom Spiegel weg. Ich werde verrückt, dachte sie, ich muss mich beherrschen, ich muss mich in der Hand behalten, sonst verwirrt sich's mir im Kopfe."3
Geleise im Schnee. Jena-Lobeda, 2014.
Die Abwendung vom eigenen Spiegelbild wirkt als unglaublich starker Ausdruck dieser traurigen Schizophrenie – Wirrnis und, wie sich gleich darauf zeigen wird, Alpträume halten diese Gerettete umschlossen.

Von anderen Verwirrungen lesen wir bei Katja Petrowskaja in ihrer literarisch aufgearbeiteten Familiensuchgeschichte "Vielleicht Esther". Im Kiew der postsowjetischen Zeit offenbart sich die Tragik in alltäglichen Handlungen:
"Jedesmal wenn der Zeiger eines uns unbekannten Messgeräts ausschlug, ging Babuschka hinunter zur Bäckerei. Sie kaufte ein Viertel Brot und versteckte es unter dem Kissen. So trickst man den Tod aus, du besorgst dir einen Brotkanten, und der Tod kann dir nichts anhaben. Je älter sie wurde, desto tiefer sank sie zurück in den Krieg. Meine Mutter war jedesmal entsetzt, wenn sie eines dieser Stücke fand, es war ein verbreitetes Kriegssyndrom und niemand wusste ein Mittel dagegen."4
Es scheint, als könne man sogar den Tod überlisten, jedoch nicht die eigenen Erinnerungen.

Ähnlich gelagerte Traumatisierungen schildert ausführlich Hanns-Josef Ortheil in "Abschied von den Kriegsteilnehmern" von 1992. Die Erlebnisse der Kriegsnöte haben ihre Spuren bei der Mutter des Protagonisten hinterlassen: "Mutter hat nie vom Ende des Krieges gesprochen, Mutter hat auch in den Nachkriegsjahren immer mit einem neuen Krieg gerechnet. An solchen Tagen begann sich für Mutter alles von neuem zu verwirren, Mutter wurde krank, Mutter begann Brote zu schmieren und Vorräte zu horten, und Mutter schrieb kleine Zettel, auf denen stand: 'Mein Sohn kann heute und morgen nicht zur Schule gehen, weil er sich nicht wohl fühlt.'"5
Der einzig verbliebene Sohn durfte der Mutter nicht von der Seite weichen. Schubweise wurde diese vom Leid angefressene Frau wieder und wieder von ihrer Angst erfasst: "Mutter hatte eine Art innerer Uhr, eine Art Seismographen, der auf 'deutsch', 'das Deutsche', 'die Deutschen' und 'Deutschland' reagierte, sie lag immerzu auf der Lauer nach schlimmen Meldungen, und schon ganz harmlose Meldungen, Meldungen eines Streiks, eines größeren Unglücks, irgendeines fremden, in einem fernen Winkel des Landes geschehenen Ereignisses brachten sie ganz durcheinander."6

In all diesen Nationen gab und gibt es noch unheimlich viel mehr Versehrte, die durcheinander gebracht werden durch ihre persönlichen "Gefahr- und Warnlaute".7
Denn Krieg, sei es dieser oder andere Kriege, hat eine unheimlich lange Nachgeschichte in den Biographien und Familien. Manchmal nicht allzu offensichtlich - und oftmals aufreibender als in der Literatur eingefangen. In allen Nationen.

Lange Schatten kahler Bäume. Pankow, Berlin, 2015.

1   J. Williams, Stoner. München 2014 (Original 1965), 312.

2   P. Modiano, Die Gasse der dunklen Läden. 1. Auflage Berlin 2014 (Original 1978, Original dt. 1988), 142.

3   A. Szczypiorski, Die schöne Frau Seidenmann. Lizenzausgabe München 2004, 199.

4   K. Petrowskaja, Vielleicht Esther. Geschichten. Berlin 2014, 64f.

5   H.-J. Ortheil, Abschied von den Kriegsteilnehmern. 2. Auflage München 2005, 326.

6   Ebd., 328.
7   Ebd.