Donnerstag, 7. Mai 2015

Versehrt neu beginnen – Das Kriegsende vor 70 Jahren

Überall kann man man dieser Tage Informationen, Meinungen und Reflexionen zum Kriegsende vor 70 Jahren bekommen. Jegliche Gruppe von Beteiligten oder Betroffenen wird bedacht, die deutsche und die internationale Perspektive mit allen erdenklichen Folgen, die regionale Kultur und die Spuren in unseren Städten, alles wird rege angeschaut und kommentiert.
Eigentlich ist alles von allen gesagt.

Und doch frage ich mich, über all die mediale und politische Aktion hinaus: Warum fasziniert mich persönlich dieses Ende des nationalsozialistischen Regimes mit seiner Terrorherrschaft und die militärische Niederschlagung Deutschlands mit der folgenden Teilung und dem Frieden so?

Wandlungen. Charlottenburg, Berlin, 2015.
Ich höre die Überlegungen, Debatten und Mahnungen aufmerksam und nehme regen Anteil. Außerdem habe ich mich in den letzten Jahren immer wieder mit dem Krieg und besonders seinem Ende beschäftigt: ich konnte überlebende KZ-Häftlinge besuchen und ihnen zuhören, ich habe Seelow und Kostrzyn, zwei stark umkämpfte Orte der letzten Kriegswochen und -tage sowie einige Berliner Gedenkorte auf mich wirken lassen und manches an Tagebüchern, Berichten, Sachtexten und literarischen Verarbeitungen zum Thema gelesen. Auch in diesem Blog habe ich an einigen Stellen Fragen und Gedanken dazu eingewoben oder mich explizit dazu geäußert.

Wenn ich also darüber nachdenke, fallen mir vornehmlich drei kurze Punkte ein, die auch mit dem "Prinzip" dieses Blogs zu tun haben.
Denn ich schaue mich immer wieder mit einem suchenden Blick (auch in der Geschichte) um und versuche, Spuren Gottes zu finden. Der schriftliche Versuch an dieser Stelle besteht darin, die Welt mit einem quasi-sakramentalen Blick zu durchleuchten und das wahrzunehmen, was mir Gott damit sagen will.
Wie ist das also mit dem Ende des schrecklich großen Krieges vor 70 Jahren und mit meinem Leben vor Gott, wenn ich von den biographischen und politischen Spuren weitgehend absehe und vornehmlich die religiöse Fragestellung aufnehme?

1
Wir sind alle Versehrte.
Keine Familie, die im Verlauf des Krieges nicht mit Verlusten umzugehen hatte. Überall war Trauerarbeit nötig, musste Verstörendes und Schreckliches verarbeitet werden. Lagerhaft, Verluste von Familienmitgliedern, Hunger, Flucht, Fronterfahrungen – all das ist nicht miteinander vergleichbar. Aber es kommt in dem Punkt überein, dass die, die durch diese Erfahrungen hindurchgegangen sind und nach dem Krieg weiterlebten, Versehrte waren.
Solche Narben, größere oder kleinere, tragen alle Menschen durch ihr Leben. Enttäuschung oder Einamkeit, die ständige bange Unsicherheit angesichts des Kommenden oder ein Gefühl von ewigem Überdruss – und in ihrem Gefolge metaphysische Heimatlosigkeit oder verzweifeltes Klammern an einzelne letzte Gewissheiten scheinen mir heutige Merkmale dessen zu sein.
Als Zeitdiagnosen dafür mögen die hektisch-hedonistische Eventkultur, ein sozial zersetzend wirkendes Autonomiestreben, die Aushöhlung der Innerlichkeit oder das Destruieren institutionalisierter Gewissheiten stehen. Denn mit der Überhöhung bestimmter Bereiche von Wissenschaft, Ökonomie, Politikverdruss, Kritik an tradierten Normen bleibt schlussendlich nur ein ent-setztes leeres Individuum im leeren Raum übrig. Selten genug erfährt jemand ein beständiges "Ruhen im Vertrauen auf den Sinn der Welt und des Lebens, aus dem wir alle in gewissem Maße die Kraft zum Leben und Überleben schöpfen."1
Die gefühlte Intensität und die konkrete Auswirkung solcher Versehrung mag verschieden sein, aber auf einem bestimmten Feld unseres Lebens tragen wir alle eine solche Last mit uns. In Kriegs- und Nachkriegszeiten mag das besonders deutlich hervortreten, in gewisser Weise stehen diese Zeiten jedoch exemplarisch für alle Zeiten.
Weg ins Nichts. Spreewald bei Lübbenau, 2015.

2
Es gibt eine Gnade des Neuanfangs.
Das ist nicht selbstverständlich, nicht in unseren individuellen Leben und nicht nach einem auf der ganzen Welt wütenden Krieg. Und doch haben gerade wir Deutschen das Privileg gehabt, nicht nach Morgenthau-Plänen in einen Agrarstaat verwandelt zu werden, sondern mit einem Marshallplan wieder aufgepäppelt und in die Staatengemeinschaft integriert zu werden.
Im persönlichen Erleben ist dies ein Geschenk von Versöhnung, das nicht gemacht oder erzwungen werden kann. Wie in den internationalen Beziehungen nach dem Krieg, so muss auch hier langsam etwas Neues wachsen können, das zerrissene Tischtuch braucht reichlich Näharbeit und neben das vergebende Vergessen muss das kritische Erinnern treten.
Religiös gesprochen: Der Wegwendung des Menschen vom Gott-Verlassen-Haben und der Hinwendung zu Ihm kommt dieser Gott mit immer wieder neu offenen Armen entgegen, in die zu fallen unter Umständen zwar ein Abgehen vom Selbstbesitz, aber eben auch ein Hineingehen in geteilte Freude bedeutet. Das Gewähren der Möglichkeit, nach allem Graus noch einmal neu anfangen zu können, ist für mich eine der wichtigsten Haltungen Gottes (siehe dazu auch das Gleichnis von barmherzigen Vater in Lk 15,11-32)

3
Frieden kommt nicht von allein.
Dies ist das Gegenstück zum eben Gesagten und klang ja auch schon an. Ein neuer Anfang ist möglich – aber er muss manchmal sehr hart errungen werden, wie sich an der langwierigen Niederringung Deutschlands bis zum 08. Mai 1945 zeigte.
Friedlich ist nicht in erster Linie der Pazifist, sondern der, der Frieden schafft. Denn auch wenn das derzeitige Meinungsklima hier eine andere Prioritätensetzung vornimmt, sollte man sich doch vor Augen führen, dass manchmal (!) mehr Schuld, mehr Leid und mehr Krieg entstehen, wenn gar nichts (oder diplomatisch erst zu spät etwas) getan wird, als wenn im äußersten Fall auch die Möglichkeit eines militärischen Eingriffs in Erwägung gezogen wird.
Auch das lehrt die letztlich aufgegebene Apeasement-Politik in den Beziehungen mit dem nationalsozialistischen Regime und der Schwenk hin zum bewaffneten Handeln.
Bei aller legitimen moralischen und politischen Anfechtbarkeit eines Waffeneinsatzes an anderen Orten bin ich nämlich dankbar für den Frieden, der im Zweiten Weltkrieg (auch) durch militärischen Einsatz errungen wurde, auch wenn währenddessen und danach viel Leid und Unrecht geschah.
Aber eben von diesem so hart erkämpften Frieden leben wir in Europa spätestens nach dem Fall des Kommunismus. 
Die Absage an das Böse und der Kampf dagegen sind dementsprechend auch keine unwichtigen Bestandteile christlicher Lebensführung, wenn Frieden mit Gott und den Menschen gesucht wird.

Frühlingslandschaft mit Obdachlosem. Rixdorf, Berlin, 2015.

1   T. Halík, Berühre die Wunden. Über Leid, Vertrauen und die Kunst der Verwandlung. Freiburg i.Br. 2. Aufl 2014, 128.