Mittwoch, 19. August 2015

Erschrockenes Herz – Herta Müller über Flüchtlinge in „Hunger und Seide“

Herta Müller kam als Deutsche aus dem rumänischen Banat 1987 in die BRD. Ihre Erfahrungen und Reflexionen darüber, wie das Leben in Unterdrückung beengt, wie sich Ausländer in Deutschland fühlen und wie Deutsche sich ihnen gegenüber benehmen, hat sie, teils aus Perspektive der Beteiligten, teils aus der der Beobachterin, Anfang der 1990er in Reden und Essays vorgetragen.

Das in diesem Jahr neu aufgelegte Buch „Hunger und Seide“ (Erstauflage 1995) versammelt diese Texte, in denen sich auch verblüffend aktuelle Beobachtungen zur Flüchtlingsfrage in Deutschland finden lassen. Zu diesem letzten Themenkomplex einige Ausschnitte, die ebenso zu heutigen Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak, Zentralafrika oder dem Balkan passen und den Finger in manche Wunde legen.

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Zunächst ein grundlegendes Plädoyer für Individualität und sprachliche Aufmerksamkeit:
Brückenpfeiler. Warschau, 2015.
Ausländer, dieses Wort ist unverblümt. Es ist so neutral und gleichzeitig so tendenziös wie der Tonfall jeder Stimmer, die es ausspricht. Von einem Mund zum anderen kann es von einer in die andere Bedeutung springen. Von einer Absicht in die andere. Doch selbst in seiner Neutralität steht es über all jenen, die so genannt werden. Ein Sammelwort für einzelne, die von anderswoher in dieses Land gekommen sind. Jeder von ihnen hat in der tausendfachen gleichen Bedrohung oder Armut seines Staates eine eigene Geschichte. Seine Biographie ist, wenn er sein Land verlässt, sein sicherstes und zerbrechlichstes Eigentum. Als Fremder sucht er Ersatz für das, was sein Staat ihm nie gegeben oder längst genommen hat.1
Mit Bezug auf die Sportler, die als „Ausländer“ in fremde Länder reisen, um dort zu spielen, hält sie fest: „Da wo sie Ausländer sind, herrscht das Privileg. Als Nummer auf einem Siegerpodium zu stehen ist nicht das Gleiche, wie als Nummer zu stehen in einem Flüchtlingsregister.“2
Gleiches ließe sich für die vielen Touristen sagen, die in diesen Tagen beim Badeurlaub auf griechischen Inseln oder in der Türkei damit konfrontiert werden, dass sich dort, wo die einen Urlaub machen, für die anderen die Frage nach Leben oder Tod stellt.

2
Die Registrierung der Flüchtlinge ist ein behördlicher Akt, der Rechtssicherheit herstellen soll, damit aber zugleich ein Verdachtsmoment gegen die aus großer Not und unter schwierigsten Bedingungen eingereiste Person darstellt. Herta Müller drückt es so aus: „Bei den Behörden muss ein Ausländer als erstes seine Biographie offenlegen. Statt ihr noch einmal zu vertrauen und sie zu erzählen, muss er sie offenlegen. Dies ist das Gegenteil von Erzählen. Und angesichts der Chance, die ihm damit gegeben oder genommen wird, ist Offenlegen schon Infragestellen.“3

Die persönlich einschneidendste Frage nach den Fluchtgründen wird heute wie damals gar nicht wirklich gestellt – und kann, wie Herta Müller darstellt, auch kein Inhalt von amtlichen Prozeduren sein, da es eine Frage der Moral ist, die Menschen bewegt, sich aus ihrer Heimat loszureißen, um in einem neuen Land heimisch zu werden.
Die schwierige Frage, ob die jeweilige Leidensgeschichte nach mitmenschlicher Regung und somit nach Barmherzigkeit verklangt – oder ob es um ein begehrtes Rechtsgut geht, dürfte für die meisten Flüchtenden müßig sein, solange sie nicht abgewiesen werden. Aus der Erfahrung von Unrecht oder Armut oder Krieg aber erwächst intuitiv der Wunsch nach Verständnis für diese erbärmliche Lage, die doch ein Beamtenherz erweichen muss. Und doch ist es aus Sicht des Zufluchtslandes ein Recht, das gesucht wird – und muss es sein, um nicht nach freiem Belieben, sondern (biblisch gesprochen) ohne Ansehen der Person aufzunehmen oder abzuweisen.
An unzumutbare Zustände anzupassen ist die jeweilige Rechtslage, wenn sonst durch sie die Menschenwürde für die Flüchtlinge nicht gewährleistet werden können.
Beicht-Stuhl. Sanktuarium der Göttlichen Barmherzigkeit,
Wilanów, Warschau, 2015.


Klarsichtig äußert Herta Müller:
Wer der Bevölkerung heute noch Zeiten mit weniger Armutsflüchtlingen verspricht, der täuscht bewusst, weil der Grund für die Flucht, die Armut, nicht verschwindet. Arme Menschen lassen sich von reichen Ländern nicht fernhalten. Auch in ihren Herkunftsländern sind Menschen, die nur klägliches Gerümpel und ihre vor Aussichtslosigkeit und Überdruss klopfenden Schläfen besitzen, nicht zu Hause. Das Gerümpel hält sie nicht fest. Und die Aussichtslosigkeit und die klopfenden Schläfen treiben sie weg.“4
Diese Wahrheit dämmert langsam den politisch Verantwortlichen auch in der europäischen Union. Nicht Frontex auf dem Mittelmeer oder Mauern und Zäune in Calais und Ungarn werden Menschen davon abhalten, nach Europa kommen zu wollen.


3
Auch das scheinbar aktuelle Problem des erwachenden Hasses auf Flüchtlinge im gesellschaftlichen Mainstream ist schon ein altes, wenn man diese Zeilen (ursprünglich von 1992) liest:
Die Steinewerfer und Brandstifter, die Menschenjäger aus Hoyerswerda und Rostock sind nicht Randgruppen. Sie bewegen sich in der Mitte. Sie können sich nicht nur auf den Applaus am Straßenrand, sondern auch auf die Zustimmung derer verlassen, die äußerlich nicht als Skinheads zu erkennen sind. Brave Bürger, die sich die Köpfe nicht kahlscheren, sondern unauffällig und still, an der persönlichen und öffentlichen Meinung stricken, die Menschenjagd gesellschaftsfähig macht. Die Neonazis mit den harten Fäusten sind seit mindestens zwei Jahren die Vollstrecker einer öffentlichen Meinung. Deshalb flüchten sie nicht. Sie agieren vor den Kameras der Reporter und toben eine Nacht nach der anderen am gleichen Ort. Sie haben keinen Grund sich zu vermummen oder in den Untergrund zu gehen. Sie führen uns organisierte Kriminalität als Legalität vor. Denn sie fühlen sich beauftragt von der Gemeinschaft.“5

Gleiches gilt für die dieser Tage immer wieder auffallende Hetze im Internet, inzwischen auch vermehrt unter Klarnamen, die für Ausfälligkeit und Enthemmung kein Hinderungsgrund mehr sind. Eine erschreckende Entwicklung zur Selbstverständlichkeit des Hasses.

Es scheinen sich mit Blick auf die zitierten Aussagen die Zeiten nicht so sehr geändert zu haben. Leider. Um so mehr sollte unser Herz erschrecken, wie Herta Müller es einem Gedicht von Sarah Kirsch entnimmt, und uns ermutigen zum couragierten Einstehen für die heutigen Flüchtlinge. 


Allein gelassen. Lazienki-Park, Warschau, 2015.
1   H. Müller, Hunger und Seide. Essays. München 2015, 19.

2   Ebd., 20.

3   Ebd., 24.

4   Ebd., 51.


5   Ebd., 45f.