Mittwoch, 23. September 2015

Körperliche Liebe. Über "Kreuzabnahme", ein Gedicht von Jan Twardowski

Wie vor einiger Zeit hier schon zu lesen war, beschäftigt mich gerade u.a. die Frömmigkeit der Kreuzabnahme.
Ein von Volker Stelzmann nach einer Vorlage von Hans Baldung Grien angefertigter Stich weist hin auf die liebevolle Weitergabe des Leibes Christi, der in der Kirche als "lebendiger Leib Christi" ebenso wie in der Eucharistie als "sakramentaler Leib Christi" verehrt wird.

Die Innigkeit und Behutsamkeit der Darstellung, die bei Stelzmann einer freundschaftlichen Umarmung nahekommt, korrespondiert mit einem Gedicht von Jan Twardowski, das ich neulich fand und hier vorstellen möchte.

Kruzifix. Kloster Andechs, 2015.
Kreuzabnahme1

Ich beginne mit dem Kopf
frage nicht ob er schmerzt
der Tod verträgt solche Fragen nicht wozu auch
ich streiche jetzt die Haare zurück unter der zu schweren Krone
die sich wie schwarze Schafe drängen
danach entferne ich die Dornen
küsse sie der Reihe nach
zähle laut erster zweiter dritter
bedrohliche bissige traurige spaßige
wie rote Wachsmalkreide für Kinder
jetzt nehme ich Ihm die Träne vom Gesicht
diese letzte die erkaltet brennt
schließlich reiße ich die Beine die Hände von den Nägeln
weiter weiß ich nicht was weiter
und wenn die Welt einstürzte ich bete zum Herzen um ein Herz

Die Sprache rückt einem auf den Leib, es ist dem Leser wenig emotionale Distanz zum Geschehenden möglich.
Dahinter steht eine aus dem Mittelalter herkommende mystische Frömmigkeit, in der die Bilder zeigen, "wie in der Christusgestalt das Leiden einen den Gläubigen einbeziehenden Ausdruck fand."2 Wie im mittelalterlichen Andachtsbild so erhält auch hier "die individuelle Frömmigkeit abseits des Kults eine Identifikationsmöglichkeit."3

Der Mensch und der Gottmensch Jesus Christus kommen einander im Leiden und Mitleiden so nah, dass es fast schon schmerzt, die Zeilen lesen zu müssen. Der Kopf, die schwarzen Haare, die Dornen, die Träne, die "erkaltet brennt", die Beine und Hände, alles wird vor Augen geführt und mit Worten liebkost.
Kreuz mit Feueröscher.
Krypta des
Berliner Domes, 2015.
Denn aus dem beschriebenen Tun spricht eine ungeheure Zärtlichkeit, die streicht und küsst und genau zählt. Nur wirkt sie auf die meisten von uns mindestens ungewohnt, wenn nicht gar abschreckend.

In drei Vierteln des Gedichtes spielt sich all die Nähe im Kopfbereich des vom Kreuz Genommenen ab, die erste Zeile lässt ja auch verlauten, dass der Verehrer mit dem Kopf "beginnen" will.
Als endlich einigermaßen brutal (aus Hektik, ungestümer innerer Bewegtheit, ratloser Unrast?) die Extremitäten von den Nägeln gerissen sind, "weiß ich nicht was weiter" – eine Schwelle ist erreicht. 

Denn womit eigentlich will er beginnen? Da sich mit Zeile zwei und drei die Frage nach Schmerzen erübrigt, wäre zu vermuten, dass auch die folgenden liebkosenden Handlungen eigentlich überflüssig sind.
Doch ebenso wie bei den traditionellen Pietá-Darstellungen oder dem Motiv der Johannesminne sucht sich hier die gläubige Liebe einen quasi-körperlichen Ausdruck. Mittelbar, durch Worte und die sinnliche Vorstellung der Verehrung des gestorbenen Herrn, sucht die Liebe sich einen Weg.

Am Ende, wenn Verstehen und Wissen nicht mehr weiterkommen, steht diese klare innere Einsicht: selbst wenn gar nichts mehr existieren würde, ist ein Herz, ein liebendes und bewegtes Herz vom Herzen Gottes, das, was die Höhe des Menschseins ausmacht.
Das Entscheidende in einem menschlichen Leben, so scheint Twardowski zu sagen, besteht, jenseits von Nützlichkeit und Lächerlichkeit, fern von Gleichgültigkeit und Distanz, darin, ein fühlendes Herz aus Fleisch, kein Herz aus Stein zu besitzen (vgl. Ez 36,26 und hier).
Das ist wohl auch die Antwort auf meine bleibende Frage, was der Sinn des Motivs der Kreuzabnahme sei: Liebe zu zeigen.

Liebe körperlich zu zeigen als Höhe des Menschseins – das gilt auch dann, wenn man mit dem konkreten Ausdruck der Herz-Jesu-Verehrung oder der Kreuzes- und Leidensfrömmigkeit nichts anzufangen weiß.

Kreuz mit Baum. Stadtkirche St. Jakobus, Dornburg / Saale, 2015.


1   J. Twardowski, Bóg prosi o miłość. Gott fleht um Liebe. Ausgewählt und bearbeitet von Aleksandra Iwanowska. Krakau 2000, 241.
2   H. Schwebel, Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts. München 2002, 44.

3   Ebd., 43.