Freitag, 6. November 2015

Straffreie Hilfe zum Tod? - Kurze Summa und Blick auf die Abtreibungspraxis

Und wieder einmal scheint in Politik und Medien eigentlich alles gesagt zu sein zum Thema des assistierten Suizids, der heute im Bundestag in vier Gesetzentwürfen verhandelt wurde:
  • Es handelt sich nicht um Tötung auf Verlangen durch Mediziner oder Vereine, sondern um die Frage, wie einer suizidwilligen Person ermöglicht werden kann, durch einen eigenen Handlungsakt, aber mit der Hilfe anderer, aus dem Leben zu scheiden.
  • Es handelt sich um die Frage nach Selbstbestimmung oder Fremdsteuerung, um die Normen, die eine Gesellschaft vorgeben kann, wenn es sich um die eben nicht mehr individuell zu lösende Problematik der Hilfe zur Selbsttötung handelt.
  • Es handelt sich um die Frage nach zumutbarem persönlichen Leiden in absoluten Grenzsituationen und der Möglichkeit, diese Leiden – und damit eventuell eben auch Leben – zu verkürzen.
    Gang hinüber. Alte Burgauer Brücke, Jena, 2014.
  • Es handelt sich um die Frage nach ökonomischen Kriterien, ob nämlich ein Arzt in Ausübung seines Berufes geschäftsmäßig handelt, ob es ihm wegen seines Gelderwerbs als Arzt überhaupt erlaubt sein solle – oder ob eine Alternative sein kann, statt dessen nicht nach medizinischem Standesrecht agierende Personen und Institutionen tätig werden zu lassen.
  • Es handelt sich um die Frage nach ausreichender palliativer Versorgung und menschlicher Zuwendung am Lebensende, deren die Angst vor einem einsamen, schmerz- und qualvollen Tod vermindern könnte und so möglicherweise auch einen eventuell bestehenden Suiziddruck abzulassen vermag.
  • Es handelt sich auf sozialer Ebene um die Frage eines möglichen Sozialdrucks, der für Schwerstkranke entstehen könnte, wenn sie sich im Falle des Wunsches weiter zu leben, für dieses Leben glauben, rechtfertigen zu müssen.
  • Es handelt sich um die juristische Frage, die in der heutigen Bundestagsdebatte die ehemalige Bundesjustizministerin Zypries einbrachte, ob durch eventuelle Neuregelungen nicht eine Prozesslawine um strittige Regelungen, die ein Gesetz womöglich nicht ausreichend geklärt hätte, in Gang käme.
  • Es handelt sich um die gesellschaftliche Frage, was Menschen im Sinne der Selbstbestimmung erlaubt werden soll und wie sich eine Gesellschaft weiter entwickelt, in der es ohne weiteres möglich wäre, sich im medizinisch extrem gelagerten Bedarfsfall Hilfe zur Selbsttötung zu holen.
  • Nicht zuletzt handelt es sich um die theologisch-spirituelle Frage, ob die grundsätzliche Verfügungsgewalt über das eigene Leben so weit gehen kann, dass auch das Ende dieses Lebens als eine Entscheidung unter vielen aufgefasst und die Lebensgabe Gottes aus eigener Machtvollkommenheit zerstört werden darf.

    Bio-Markt. Norblin, Warschau, 2015.
    Darüber hinweg klingen zudem die kulturkämpferischen Töne, die auf der einen Seite einen „Gottesstaat“ wittern, wenn christlich argumentierende Parlamentarierinnen und Parlamentarier und die Kirchen als eine unter vielen gesellschaftlichen Gruppen ihre Überzeugungen einbringen oder auf der anderen Seite die Lebensschützer, die „Euthanasie“ rufen, wenn Menschen ihr Leiden nicht mehr glauben, aushalten zu können und nach Hilfe suchen.

Nun wurde im ersten Wahlgang für einen Gesetzesentwurf (der Abgeordneten Brand/CDU und Griese/SPD) gestimmt, der gegen die "geschäftsmäßige Sterbehilfe" eintritt und "auf Wiederholung angelegtes, organisiertes Handeln" unter Strafe stellen will. Einzelne Ärzte hingegen, die Hilfe zur Selbsttötung leisten, sollen straffrei bleiben. Fraglich scheint aus juristischer Perspektive noch, wie trennscharf hier das "normale" ärztliche Tun vom gewerbsmäßigen geschieden werden kann.
Trotzdem scheint dieser Vorschlag mir wie vielen anderen Menschen noch der vernünftigste und den Bedürfnissen kranker Menschen wie auch den im rechtlichen Niemandsland agierenden Ärzten angemessenste zu sein.

Was mich dabei aber sehr bewegt und was selten zur Sprache kam, ist das Konzept der „Straffreiheit“, das ich als juristischer Laie nur aus dem Kontext der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs und seiner deutschen Gesetzeslage kenne.
Dort bleibt die Abtreibung für die auf Wunsch der Schwangeren die Tat Durchführenden dann straffrei, wenn bestimmte Voraussetzungen (wie die Beratung, die Wartezeit und der hinreichende Grund) gesetzlich erfüllt sind.
Der Gesetzestext selbst aber sagt aus, dass Abtreibung als Tötung ungeborenen Lebens an sich nach deutschem Recht ein Straftatsbestand ist.
In der gesellschaftlichen Wahrnehmung aber ist Abtreibung inzwischen zum allgemein wahrnehmbaren Recht geworden, das jede Frau in Anspruch nehmen kann. Diese Kluft zwischen Gesetzestext und sozialer Realität verschiebt die juristische Sachlage in maßgeblicher Weise. „Straffreiheit“ bedeutet dann für die Bevölkerungsmehrheit nicht mehr, dass aus guten Gründen eine Ausnahme gemacht werden darf, sondern dass eine Sache erlaubt ist.

Hier, glaube ich, darf man sich keine Illusionen machen, was die Wahrnehmung von Ärzten und ihr Tun in der sozialen Realität einer Gesellschaft langfristig bedeutet.
Wenn straffrei bleibt, wer zum Suizid hilft, dann werden dieser Helfer und diese Hilfe in langer Sicht als etwas Normales angesehen werden.
Vielleicht lebe ich zu sehr im „Tabu-Denken“ früherer Generationen, aber vor dieser Perspektive gruselt mir etwas.

Leerer Raum, Universität der Künste, Charlottenburg, Berlin, 2015.