Montag, 16. November 2015

Wie belanglos kann man sein? Über das Schließen der Augen.

Nach Terroranschlägen, wie sie in Paris verübt wurden, kann man als sich in dieser Web-Öffentlichkeit äußernder Mensch nicht kommentarlos übergehen zum weiteren Geschehen, wenn man sich zu allgemeinen Themen äußert.
Oder doch?
Natürlich kann man. Die großen Aufreger sind durch, Betroffenheit wurde allerorten spürbar geäußert, Trauerbekundung scheint heute schon kein Gebot der Stunde mehr zu sein und pietätlos wäre es auch nicht.
Aber ich persönlich stelle mir die Frage, wie belanglos ich denn nun weitermachen kann – und will.
Konkreter und zugleich weiter gefasst gefragt: Ändert sich unser Blick auf menschliche Gewaltpotentiale, auf menschliches Leiden? Oder stumpfen wir ab mit jeder neuen Katastrophe? Sind wir übersättigt von all dem Grauen?
Barrieren im Blick. Rostock, 2015.
Durch unsere Medienkonsumgewohnheiten haben wir ja oft einen feststellenden Nachrichtenüberblicksblick eingeübt, so dass meist keine Möglichkeit mehr besteht, sich auch nur ansatzweise einzufühlen in den Horror, den wir täglich sehen.
Wie könnte ich jedes Unglück, über das weltweit berichtet wird, so an mich heranlassen, dass es mich wirklich betrifft?
Warum werden nicht die Anschläge in Beirut oder der fortdauernde Krieg in Syrien und an all den anderen Unruheherden der Welt das überragende Thema der Nachrichten und meiner Reaktion darauf?
Weil mir die Franzosen geografisch oder menschlich näher sind?
Doch nicht wirklich!
Was meine Offenheit für die politische Weltwirklichkeit betrifft, habe ich also wenig Hoffnung. Und vielleicht ist das, auch für die Welt im allgemeinen ganz gut so, um mich nicht zu überfordern.
Amos Oz trifft es in seinem aktuellen Buch "Judas" darum ganz gut, wenn er den alten Gerschom Wald zu dem jungen Schmuel sagen lässt:

"Fast alle Menschen gehen mit geschlossenen Augen durchs Leben, von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod. Auch Sie und ich, Schmuel, mein Lieber. Mit geschlossenen Augen. Würden wir die Augen auch nur eine Sekunde öffnen, würden wir auf der Stelle einen schrecklichen Schrei ausstoßen, wir würden schreien und nicht aufhören zu schreien. Und wenn wir nicht Tag und Nacht schreien, ist das der Beweis, dass unsere Augen geschlossen sind. Und jetzt seien Sie so gut und lesen ein wenig in Ihrem Buch, und wir wollen schweigen."1

Drei kurze Überlegungen dazu:
Eins: Ließen wir uns ein auf die ganze grausige Wirklichkeit, wir würden es nicht aushalten. Trotzdem können wir behaglich sitzen und weiterlesen, in den meisten Fällen bleibt uns noch nicht einmal etwas anderes übrig.
Zwei: Die Aussagen erinnern an die biblischen Aussagen über Gott, dessen unmittelbares Erscheinen kein Mensch auszuhalten imstande wäre, sondern sterben müsse, wenn er IHN sehen würde (vgl. z.B. Ex 33,20). Gut also, dass unsere Augen geschlossen sind. (s.a. die daran anschließenden Überlegungen zum Wahnsinn hier.)
Drei: Dem gegenüber wird über denselben Gott gesagt, dass er die Augen nicht vor dem menschlichen Leiden verschließt, prominent heißt es beispielsweise bei der Beauftragung des Mose, das Volk Israel zu retten: "Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen." (Ex 3,7)

Ich kann belanglos weitermachen. Muss sogar die Niederungen meines Alltags normal leben können. Kann nicht gottgleich jedes Leid aufnehmen. Finde mich, auch als Gläubiger, mit meinen geschlossenen Augen ab. Und kann doch wenigstens ab und zu teilnehmen an Seinem Blick auf uns, um "das Elend" nicht gänzlich an mir vorbeigehen zu lassen.

Verhüllung. Rixdorf, Berlin, 2015.

1   A. Oz, Judas. Berlin 6. Aufl. 2015, 228.