Dienstag, 26. Januar 2016

Erinnern mit Widerständen und Erinnern als Widerstand - Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des NS

Ruth Klüger schrieb Anfang der 1990er Jahre ihre Reflexionen über die Ghettos und Lager, in denen sie einen Großteil ihrer Kindheit verbringen musste. Damals gab es bereits eine ansehnliche Zahl von Zeitzeugenberichten, "so daß ich heute nicht von den Lagern erzählen kann, als wäre ich die erste, als hätte niemand davon erzählt, als wüßte nicht jeder, der das hier liest, schon so viel darüber, daß er meint, es sei mehr als genug, als wäre dies alles nicht schon ausgebeutet worden - politisch, ästhetisch und auch als Kitsch."1

Warum also heute trotzdem davon erzählen, warum nicht besser schweigen, warum vor allem an diesem Ort das Thema wiederum aufgreifen?

Aus Befangenheit "in einer Art Schreckensrührung",2 wie Ruth Klüger sie in manchen wohlmeinenden Deutschen sieht oder weil Deutschland immer noch "ein von Hitler traumatisiertes Land" ist, wie Alain Finkielkraut jüngst in der Zeit unterstellte?
Selbstverständlich hat das Nachdenken über die Shoah hierzulande oft eine pädagogische und vielleicht auch therapeutische Komponente. 
Zugleich aber geht der gesellschaftlich-ethische Gehalt des Erinnerns der Shoah tiefer, als die gängigen mahnenden Schulddiskurse und das stets wiederholte plakative (wenngleich notwendige) "Nie wieder!" suggerieren.
Dazu zwei Erwägungen.

Pfahl im Eis der Klarheit. Peetzsee, Grünheide, 2016.
1 Die Unsympathischen
Ruth Klüger schreibt, dass sie ihre Großtante, die später dem Völkermord der Nazis zum Opfer fallen sollte, nicht unter dem Gesichtspunkt ihres Lebensendes als Verfolgte, Entrechtete und Ermordete erinnern kann, sondern nur als eine ihr böse gesonnene alte Frau: "Die Tante bleibt für mich der Mensch, der mir verbot, nach dem Kirschenessen Wasser zu trinken, weil das schädlich sei ... ; die mir meine alte Straßenbahnfahrkartensammlung wegnahm, das sei unhygienisch; die morgens in der Dunkelheit auf der einsamen Fresserei bestand, die man Frühstück nannte, dieses klebrige Brot und das süßliche Getränk mit der Milchhaut drauf ..."3
Zugleich aber ist sie von sich selbst schockiert, "daß die vergaste Tante Rosa nur eine erbitterte Kindheitserinnerung bleibt, die Frau, die mich bestrafte, als sie herausfand, daß ich den Frühstückskakao in die Spüle geschüttet hatte."4
Was für sie intuitiv zählt, sind die schlechten Erinnerungen, nicht die Trauer oder Betroffenheit. Ihr Entsetzen über sich selbst hat mit diesen verschobenen Dimensionen zu tun, mit der Pietät, der es normalerweise nicht erlaubt, kindliche Emotionen so ernst zu nehmen, dass der gewaltsame Tod daneben verblasst.
Angesichts der Prämisse von klar scheidenden Nachgeborenen: "Das geschundene Volk muß gut gewesen sein, wo kämen wir sonst hin mit dem Kontrast von Tätern und Opfern?"5 stellt sie nüchtern-lakonisch klar, dass gemeinsames Leiden nicht zwangsläufig zusammenschweißt und dass Familien nicht unbedingt gestärkt aus den Erlebnissen massenhaften Sterbens und Mordens um sich herum hervorgehen: "Während eines Erdbebens zerbricht erfahrungsgemäß mehr Porzellan als sonst."6

Gegen die vereinfachende Versuchung der Schwarzweißmalerei und gegen die zynische Versuchung, unangenehme Zeitgenossen einfach zu vergessen, gilt also der Imperativ, sich auch an die Unsympathischen zu erinnern, auch ihnen zuzugestehen, dass sie "nur" Menschen sind und keine moralischen Überflieger.
Ambivalenzen und Grauzonen gehören auch in Auschwitz dazu, Gut und Böse sind oft nicht trennscharf auseinanderzuhalten.
(Nebenbei, und ohne damit gewalttätiges Verhalten zu verteidigen, gilt dies meiner Meinung nach auch für straffällig gewordene Asylbewerber, die ihren Taten gemäß bestraft gehören, nicht einer unterstellten Gesinnung.)

Erinnern heißt, ein Gesicht zu geben.
Mahnmal Große Hamburger Straße, Berlin-Mitte, 2016.
2 Die Widerständigen
Neben diesen Fragen des Erinnerns auch über emotionale Widerstände hinweg gibt es das Erinnern als Widerstand.

Eine Sache ist es, einem Menschen, dem durch die Erfahrung von Gewalt und das vollständige Ausgeliefertsein an fremde Mächte das Gefühl für sein Menschsein abgesprochen wurde, zuzuhören, mit diesem Menschen vielleicht dem inneren Entsetzen zu widerstehen versuchen und ihm so zu helfen, neu und wieder Mensch zu sein.
(Nicht viele Menschen haben diese Möglichkeit, in direktem und engem Kontakt mit solcherart Versehrten zu stehen, wenngleich gerade im Kontext der vielen vor Krieg und Verfolgung zu uns Geflohenen die Möglichkeiten dafür wachsen.)

Eine andere Sache ist es, die Erlebnisse zu dokumentieren, später darüber zu berichten, zu erinnern und nicht ins Vergessen fallen zu lassen – auf diese Weise nämlich wird mindestens partiell der Gerechtigkeit wieder aufgeholfen.
Denn wer andere Menschen um ihr Menschsein bringen und sie gar auslöschen will, der kann nicht wollen, dass diese Menschen Zeugnis geben von dem, was ihnen widerfuhr. Jede öffentliche Erinnerung, jede ernsthafte Erörterung des Themas, jedes Mittrauern ist dann ein Akt des Widerstandes.
Bei jenen, denen Carolin Emcke zuhörte und nachlas, entdeckte sie, dass diese selbst auf verschiedene unscheinbare Weisen widerständig (oder dissident) waren, indem sie "selbst unter extremen Ausnahmesituationen etwas von sich zu schützen wissen, wie sie etwas erhalten von der Person, die sie einmal waren, früher, in einem anderen Leben."7
Menschen wollten auf diese Weise mental der Entmenschlichung entgehen, die über sie hereingebrochen ist, sie wollen dem, was sie erleben, beispielsweise in einem Konzentrationslager oder unter Folter, etwas entgegensetzen – und sei es "nur" das Memorieren von Gedichten, das lebensgefährliche Aufbewahren kleinster Stücke persönlichen Eigentums, die unmöglich-verbotene Hilfe für einen Schwächeren. Emcke schreibt: "Etwas tun zu können, irgendetwas, sich im Radius der Ohnmacht der eigenen Handlungsfähigkeit zu versichern, gehört zu den Momenten der Dissidenz."8 Denn hier wird im geringsten Tun Selbstachtung und das "Ich" wiedergefunden.

Wir relativ Unbedarfte können diesen damaligen Versuchen, die lastende Gegenwart zu bestehen und sie zu transzendieren, oftmals nur verwundert oder staunend gegenüberstehen. Doch die Person, die, "als Überlebende oder Nachgeborene, diesen Erfahrungen der Misshandlung und Entrechtung etwas entgegensetzen will, der bietet sich in diesen Widerständigkeiten ein Anknüpfungspunkt des Erinnerns und des Erzählens, des Zuhörens und des Nachfragens."9

So kann im direkten Kontakt mit Menschen, die durch ihre Erfahrungen des Ausgeliefertseins weiterhin existenziell angefochten sind, gesagt werden, dass Angst oder Schmerz oder die Einsamkeit in diesen Erfahrungen nicht mehr alles sein sollen.
Unklarheit zulassen.
Theodor-Heuss-Platz, Charlottenburg, Berlin, 2014.
Weiterführend geht es in diesem Sinne um Auferstehung, um eine "Re-Humanisierung"10 der Versehrten – ihre ausbrechende Widerständigkeit, ihr Erzählen und unser Hören und Weitertragen macht sie von Nummern wieder zu Personen. Gegen das Vergessen und Einebnen geht es für die Einzelnen darum, wieder als Individuum wahrgenommen zu werden, nicht als "Masse" aus Überlebenden (oder aus Flüchtlingen).

Das ist ein fragiles und beschränkt bleibendes Tun angesichts der vielen verschiedenen Stimmen, die nie alle gleichwertig wahrgenommen werden können. Aber dieses Tun, dieses Raumgeben den Versehrten wirkt zurück auf uns:
"Es ist auch unsere Identität, die der Ungeprügelten, der Verschonten, der nächsten Generation, der Kinder und Enkel, die wir die Geschichten der Täter und Opfer, auch die unerzählten, geerbt haben, die sich in einem solchen Gespräch erst beweisen muss. Wer wir individuell und als Gesellschaft sein wollen, wer wir sein können, zeigt sich auch darin, ob wir eine solche vielstimmige, unfertige und zeitoffene Erzählung ermöglichen."11

Es ist auch unser Widerstand gegenüber dem Verschweigen von Unrecht und Gewalt, denn das Verschweigen setzt Unrecht und Gewalt fort.



1   R. Klüger, weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, 79.

2   Ebd., 85.

3   Ebd., 11.

4   Ebd., 12f.

5   Ebd., 72.

6   Ebd., 55.

7   C. Emcke, Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit. Essays. Frankfurt a.M. 2015, 57.

8   Ebd., 60.

9   Ebd., 68.

10   Ebd., 100.


11   Ebd., 110.