Donnerstag, 7. Januar 2016

Köln, Warschau und die Glienicker Brücke – Vom Härtegrad des Rechtsstaats

Angesichts der massenhaften sexuellen Übergriffe auf Frauen in Köln und anderswo ruft man allerorten nach der "Härte des Rechtsstaats", was nach meinem Verständnis so viel heißt wie die konsequente Anwendung der bestehenden Regeln und Gesetze, um Täter zur Rechenschaft zu ziehen und den Kern des Rechts zur Geltung zu bringen. Dieser Kern ist in Deutschland durch den Ersten Artikel des Grundgesetzes und damit durch die Würde des Menschen bestimmt, deren Schutz in vielen weiteren Artikeln und Gesetzestexten ausdekliniert wird.

Löcher. Columba, Köln, 2014.
Allerdings scheint "Härte des Rechtsstaats" oft so verstanden zu werden, als müssten in erster Linie Exempel statuiert und Verschärfungen des Rechts (aktuell: Abschiebepraxis bei Tätern, die Asylbewerbern sind) sowie eine brutalstmögliche Ergreifung der Täter in die Wege geleitet werden. Es macht die Sache nicht klarer oder besser, dass dabei auch Flüchtlingspolitik und Feminismus in diesen großen Topf gerührt werden, in dem jeder meint, sein eigenes Süppchen kochen zu müssen.

Einen Kochtopf weiter köchelt Polen, auf das zu schauen sich derzeit lohnt, wenn es um die Fragen nach Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Freiheitsrechte im Staat sowie gegenüber staatlichen Organen geht. Das Parlament wird dort gerade mit absoluter Mehrheit von der nationalkonservativen PiS bestimmt.
Norbert Lammert hat vor dem Hintergrund der aktuellen polnischen Umwälzungen durch die Exekutive und die Eingriffe in die Besetzung des Verfassungsgerichts in einem Kommentar in der ZEIT (vom 30.12.2015) betont: "Die verlässliche Stütze der Freiheit ist gerade deshalb nicht das Mehrheitsprinzip, sondern der Rechtsstaat, der individuelle Grundrechte sichert, die nicht zur Disposition stehen, auch nicht für demokratisch gewählte Mehrheiten." Gerade die deutsche Geschichte habe u.a. mit die Aufhebung der Gewaltenteilung in den zwei Diktaturen des 20. Jahrhunderts gezeigt, wie es nicht geht, so dass die Rechtsstaatlichkeit heute "unverrückbaren Geltungsanspruch in Deutschland" beansprucht.

Ähnlich ambitioniert und mit den pathetischen Mitteln des amerikanischen Kinos argumentiert Steven Spielberg in seinem aktuellen Streifen "Bridge of Spies", den ich vor ein paar Tagen gesehen habe. Der von Tom Hanks verkörperte Anwalt Jim Donovan wird vom Drehbuch mit allen Merkmalen des moralisch integren Akteurs ausgestattet und setzt sich auch über die ihm auferlegte Pflicht hinaus für seinen Mandanten, den sowjetischen Spion Rudolf Abel, ein. Und dies auch gegen viele Widerstände des "Volkszorns", der in ihm einen Unterstützer der Kommunisten sieht.
Glienicker Brücke, Potsdam, 2012.
Das Recht auf eine kompetente Verteidigung ist ihm so wichtig, dass er auch das Ansinnen der CIA ablehnt, seine Schweigepflicht zu brechen und Informationen seines Mandanten weiterzugeben. Die zynisch-pragmatische Aussage des CIA-Agenten, dass er kein Regelwerk ("rulebook") brauche, kontert er sinngemäß: Sie als US-Amerikaner deutscher Abstammung und ich als US-Amerikaner irischer Abstammung haben nicht viel gemein, aber als US-Amerikaner haben wir die gleichen verfassungsgemäßen Rechte, also ist die Verfassung unser Regelwerk. Diese Verfassung (und in der Konsequenz eine ordnungsgemäße Verteidigung), so erklärt er später in einer Grundsatzrede, sei es, die wir als rechtsstatliche Basis (im Übrigen auch für die Feinde dieses Staates!) brauchen, um uns von den Sowjets abzuheben.
Und diese Verfassung, so würde ich hinzufügen, schützt hoffentlich alle vor staatlicher Willkür, auch jene, wo uns das nicht auf Anhieb gefällt. Manchmal ist dieser Schutz in der Strafverfolgung unbequem und manchmal entspricht er nicht dem Gerechtigkeitsempfinden, aber nötig ist er allemal, sonst gilt das Verdikt des Augustinus: "Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?".1

Täter sollten gefasst und mit rechtsstaatlichen Mitteln verurteilt werden – ohne jedoch dass irgendein diffuser Volkeswille seine Rachsucht befriedigt. Sondern indem die jetzt gedemütigten und beraubten Opfer merken, dass ihr Schicksal vor dem Recht nicht gleichgültig ist und indem die Täter spüren, dass ihre Taten vor dem Recht nicht folgenlos sein können.
Beide müssen das Recht erfahren und "ihr Recht bekommen" durch die Anwendung der Gesetze, die an die Grundrechte gebunden sind.

Unter dem Dach des Rechts. S-Bahnhof Hermannstraße, 2015.

1   De civitate Dei, IV, 4, 1. Vgl., in anderer Übersetzung, hier: https://www.unifr.ch/bkv/kapitel1922-3.htm