Freitag, 24. Juni 2016

"Bis ins Wurzelwerk" - Brexitlyrik

Nun ist es also geschehen.
Das britische Wahlvolk hat mit knapper Mehrheit für den Austritt seines Landes aus der EU gestimmt. Der Vertrag, der Europas Völker zusammenführen wollte, wurde konterkariert und hat zu einer Abstimmung über Geld und Handel, voller Selbstbehauptungsdrang und Misstrauen geführt.

Dabei gibt es wenig, was Menschen in der abendländischen Geschichte mehr geprägt hat, als der Gedanke vom Bund – sei es der Bund einzelner Menschen, der Bund zwischen Völkern oder der Bund Gottes mit den Menschen.

Baum ab. Ufer des Peetzsees, Grünheide, 2016.
Ein Gedicht von Rose Ausländer1 mag das veranschaulichen:


Vertrag

Einen Vertrag machen
zusammenzuhalten

bis ins Wurzelwerk
bis zu den strengsten Sternen
im letzten Himmel

du und du und du


Doch vielleicht ist der Anspruch eines ungekündigten (oder gar unkündbaren) Bundes zu viel für uns und wir müssen – und wollen – ihn immer wieder brechen.

"Zusammenzuhalten" – das hängt die Latte hoch, wenn Egoismen aufeinanderprallen.
Auch in der EU war immer viel Pathos vom Weiterzusammenwachsen – und wenig von der realistischen Gefahr durch menschliche Begrenztheiten zu spüren.
Denn die Möglichkeit des freiwilligen Ausscheidens einer Nation aus dem Staatenbund spiegelt eine Selbstbegrenzung durch nationale Interessen.
Schade eigentlich, dass menschliche Bündnisse selten "bis ins Wurzelwerk" gehen. Aber so ist es.


1   In: R. Ausländer, Aschensommer. Ausgewählte Gedichte. München 1978, 164.