Dienstag, 14. Juni 2016

Die Ecke macht's – Altarwand und Hauskapelle im Christian-Schreiber-Haus

Das Jugendbildungshaus, in dem ich arbeite, hat eine bemerkenswerte Kapellenarchitektur. Im Halbrund sitzt die Gemeinde einer großen, abstrakt gestalteten Wand gegenüber, davor befinden sich der Altar und die Sedilien der Liturgen. In die grau gehaltene Wandgestaltung eingebunden sind sowohl der Tabernakel als auch das Kreuz und ein buntes Fenster.

Kapelle mit Altarwand, Christian-Schreiber-Haus, Alt-Buchhorst, 2016.

Historische Einordnung
Nachdem am 11.11.1972 der Grundstein für die lang erwartete neue Kapelle von Weihbischof Kleineidam gelegt wurde, konnte diese nur, wie die Chronik vermerkt, durch „Feierabendarbeit und Eigenleistung1 fertiggestellt werden, da sich für das kirchliche Bauvorhaben keine Firma fand.
Architekt Lothar Feitel2 dagegen plante immer wieder Kirchbauten, zumeist auf ehrenamtlicher Basis und war über Jahre bekannt mit dem Haus und seinen Abläufen, so dass ihm die Bauausführung in die Hände gelegt wurde. Im Herbst 1975 wurde die Ausgestaltung der Kapelle abgeschlossen.
In enger Abstimmung mit Feitel, dem Hausleiter und dem Jugendseelsorger schuf der Bildhauer und Theologe Werner Nickel die Altarwand. Schon zuvor mit der künstlerischen Ausgestaltung vieler Kirchen in der DDR betraut, benennt er seine künstlerische Devise so: "Immer geht es darum, das Wesentliche auf den Punkt zu bringen. Dies gelingt nicht zuletzt durch Weglassen."3
Diese Reduktion auf den inhaltlichen Kern zeigt sich an der Altarwand besonders deutlich.

Geist über Wassern.
Christian-Schreiber-Haus,
Alt-Buchhorst, 2016.
Theologisches Programm der Altarwand
Das Bildprogramm greift auf schlichte Formen zurück, geht aber inhaltlich in die Tiefe. Von rechts nach links gelesen ergibt sich ein Panorama der biblischen Heilsgeschichte, angefangen von der Schöpfung bis hin zur eschatologischen Vollendung. Von unten wächst das Bild vertikal über die ganze Wand in die Höhe und geht über in die Farben und Formen der Fenstergestaltung.

Schöpfung und Alter Bund
Der Leere auf der rechten Wand entspricht das Nichts, aus dem Gott nach und nach die Dinge wirkt, indem sein schöpferischer Geist wie ein Wirbel über den Wassern schwebt. Aus den zellengleichen kleinen Punkten heraus entwickelt sich alles, was noch kommt.
Gleich daneben deutet sich durch die Schiffsform der Arche und den beginnenden Regenbogen der erste Bundesschluss Gottes mit den Menschen an. Weiter führt Gott seine Erwählten aus Ägypten heraus und mittels der hier baumartig abgebildeten Wolkensäule auch durch die Wüste in das Gelobte Land Israel.
Kreuz und Schrift.
Christian-Schreiber-Haus, Alt-Buchhorst, 2016.
In seinen Schriften hält das Volk diese Erinnerungen fest und weist zugleich voraus auf den ersehnten Messias.

Christus und der Neue Bund
Dieser Retter hängt als der gekreuzigte Jesus Christus im Fluchtpunkt des Blickes, in der Raumecke und damit sowohl am Scheitelpunkt des gottesdienstlichen Raumes und am symbolischen Wendepunkt der Zeiten. Ein Merkmal der Ecke ist ja, dass die Wand dort ihre Richtung ändert – und eben das ist die Bedeutung des Gottessohnes in der Heilsgeschichte: durch diesen Tod ändert sich alles.
Das Kreuz selbst wächst nach allen Seiten weiter – nach unten erweist es sich als Lebensbaum, der im Rücken des Zelebranten frische Blätter treibt, nach oben ragt es in den nun für alle offenen Himmel, der sich durch ein Dachfenster zeigt. Nach rechts hin durchdringt es die Schriften des Alten Bundes und nach links ragt es in die neue Zeit der christlichen Gemeinde.
Der alte Korpus hingegen ist ein Geschenk des damaligen Bischofs Alfred Kardinal Bengsch; er wurde erst nachträglich in die Planung integriert und bildet nun einen farbigen und figürlichen Kontrast zum abstrakten Stil Nickels.

Kreuz in der Ecke.
Christian-Schreiber-Haus, Alt-Buchhorst, 2016.

Dass Gott seinen Sohn nicht im Tod belassen hat, davon zeugt der weitere Fortgang der Wand Richtung Fenster: In die Blumenwirbel sollten als Symbole der Gaben des Heiligen Geistes ursprünglich Halbedelsteine eingefügt werden, diese waren durch die politischen Verhältnisse in den 1970er Jahren der DDR jedoch nicht zu bekommen – und als man die Kapelle 2008 neu gestaltete, wurde bewusst darauf verzichtet, um diese Zeit zu erinnern.
Doch auch der Tabernakel verweist auf die Gegenwart Gottes mitten in seinem pilgernden Volk. Hier ist er für die Gläubigen in der Speise der Eucharistie gegenwärtig.
Formen und Farben der Ewigkeit.
Christian-Schreiber-Haus, Alt-Buchhorst, 2016.


Blick in die Herrlichkeit
Die Wand mündet schließlich in das aus bunten Glasbausteinen gebaute Fenster der Kapelle. Hier gerät das Ziel der Weggemeinschaft Gottes mit den Menschen in den Blick. Bewegung und Licht prägen das Fenster. Während die Formen sich fortsetzen, wandeln sich Farbigkeit und Material – ganz wie es die christliche Theologie es für das ewige Leben beschreibt: Die individuelle menschliche „Substanz“ wird in ihren entscheidenden Grundzügen bewahrt und zugleich überführt in einen gänzlich neuen Zustand in der Gegenwart Gottes. Dieser Zustand ist geprägt von der vielfarbigen Buntheit des göttlichen Lebens in den Erlösten und der Transparenz für Gottes Nähe. Ein besonderer symbolischer Effekt stellt sich ein, wenn die Sonne auf das Fenster scheint – denn dann erwärmen sich die funkelnden Lichtbausteine auch noch.

All diese Assoziationen muss man nicht mitvollziehen, aber manche davon mögen zu einem vertiefteren Verständnis der Kapellenausgestaltung helfen und zum Weitermeditieren anregen. Und natürlich gilt auch hier, dass Bilder und Beschreibungen einen Besuch nicht ersetzen. Denn, wie Nickel für seine gesamte Kunst festhält: „Es ist viel wichtiger, die richtigen Fragen zu stellen, als Antworten zu geben … Es kommt immer auf den Standpunkt an, von dem aus etwas gesehen wird. Verschiedene Antworten können richtig sein."4
 
Einige Lichtelemente. Christian-Schreiber-Haus, Alt-Buchhorst, 2016.
1   So zitiert in den „Gedanken zur Altarwand der Kapelle des CSH“ von Richard Rupprecht (Hausleiter von 1971-1980) in: M. Laschewski, B. Simon, U. Stein, M. Hundt (Hgg.), Wie ein Baum am Wasser gepflanzt. 75 Jahre Jugendhaus. Berlin (Eigenverlag) 2008, 30f.
3    Zit. n. E. Pohl, Im Stürzen gehalten. Der Bildhauer Werner Nickel und sein Ansatz, Kirchenräume und Bildwerke zu gestalten. In: Tag des Herrn 46/2010, http://www.tdh-online.de/archiv_2008_bis_2011/tdh_artikel_16039.php.
4   Ebd.