Samstag, 11. Juni 2016

"Geliebt sein und noch nichts davon wissen" - Oder: Wo findet ein Mensch heute Vergebung?

Das Evangelium des Sonntags (Lk 7,26-8,3) handelt vom Besuch Jesu bei einem Pharisäer und der Begegnung mit einer "Sünderin", die Jesu Füße salbt und ein Gespräch über Vergebung in Gang bringt. Damit berührt diese Geschichte Fragen, die mich immer wieder beschäftigen: die Problematik von Vergebungsbereitschaft und Vergebungsmöglichkeit, die ich, unter anderen Vorzeichen als zur Zeit Jesu, gerade in unserer heutigen säkularen Gesellschaft für äußerst gewichtig halte.

Gibt es überhaupt die richtige Klingel?
Halle / Saale, 2016.
Die Einstellungen zum Thema Sünde und Vergebung könnten in den verschiedenen Ecken unserer Gesellschaft nicht weiter auseinander klaffen – einerseits spüren viele Menschen die zu oft nicht wahrgenommene Verantwortung gegenüber der Schöpfung und lassen sich insbesondere von Leiden und Tod der Tiere durch die Hand des Menschen erschüttern. Das ungeheure Schuldigwerden ist hier so offensichtlich, dass es unabweisbar scheint. Andererseits leben wir in einer Zeit des Unschuldswahns, die zwar hier und da Verantwortlichkeiten Einzelner sieht, gleichwohl die Macht der biologischen, sozialen und politischen Umstände so stark gewichtet, dass die Rede vom Schuldigwerden als moralinsauer und altmodisch abgetan wird.

Ganz ähnlich greift Papst Franziskus in einem Gespräch über die Barmherzigkeit Pius XII. und sein Diktum vom neuzeitlichen Verlust des Bewusstseins für die Sünde auf – und fügt an: "Heute kommt noch ein weiteres Drama hinzu, nämlich dass wir unser Übel, unsere Sünde als unheilbar betrachten, als etwas, das weder geheilt noch vergeben werden kann. Es fehlt die konkrete Erfahrung der Barmherzigkeit. Die Verwundbarkeit unserer Zeit ist auch das: der mangelnde Glaube daran,dass es Erlösung gibt, eine Hand, die uns aufhebt, eine Umarmung, die uns rettet, uns vergibt, uns aufnimmt, uns mit unendlicher Liebe überschwemmt, geduldig und nachsichtig."1

Wohin also geht ein säkularer Mensch, der mit Gott nichts am Hut hat und aufgrund seiner Lebensumstände von Schuldgefühlen geplagt ist? Wo findet er Frieden?
Eine Frau, die abgetrieben hat und sich im Nachhinein mit dieser Entscheidung plagt. Ein Mann, der die pflegebedürftigen Eltern ins Heim gegeben hat und sich nach deren Tod Vorwürfe macht. Eine Frau, die beruflich schwerwiegende Entscheidungen über andere Menschen treffen muss und angesichts dieser Machtfülle nicht mehr ruhig schlafen kann.
Dergleichen Beispiele ließen sich beliebig vermehren.

Hier ist die biblische Geschichte ganz aktuell: Denn dahinter steckt die Frage, wohin in dieser zwiespältigen heutigen Welt jemand gehen kann, der in der Verzweiflung seines Schuldig-geworden-seins Vergebung sucht.
(Nachgeordnet ist hier die Frage, ob so jemand eine christliche Kirche aufsuchen würde, weil diese den Eindruck einer vergebungsbereiten Einrichtung macht – ich zweifle!)
Und von der anderen beschriebenen Seite her: Wie lässt sich die Einsicht wecken, dass es bisweilen wichtig und heilsam ist, sich vergeben zu lassen?

Ich sehe hier keine eindeutigen Antworten.

Aber im christlichen Glauben stecken diese zwei Verheißungen:
Sich vergeben lassen ist eine vielleicht ungewohnte Verdemütigung, aber eine aufrichtend heilsame. Und: Mit Gott gibt es eine Person, die vergeben will, so dass Verzweiflung nicht das letzte Wort hat.

Oder mit einem Wort von Jan Twardowski: Die Hoffnung eines Vergebung Suchenden besteht darin: "geliebt sein und noch nichts davon wissen".2

Geliebt und gehalten. Pforte der Barmherzigkeit, St. Paulus, Berlin, 2016.

1   Papst Franziskus, Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit Andrea Tornelli. 3. Aufl. München 2016, 37.

2   J. Twardowski, Bóg prosi o miłość. Gott fleht um Liebe. Ausgewählt und bearbeitet von Aleksandra Iwanowska. Krakau 2000, 195.