Sonntag, 3. Juli 2016

An Hiobs Seite - Elie Wiesel zum Gedächtnis

Elie Wiesel ist tot.

Der Autor und Friedensnobelpreisträger, dem das eigene Überleben in Buchenwald und das massenhafte Sterben seines Volkes angesichts eines schweigenden Gottes zum beherrschenden Thema seiner Schriften wurde, er ist nun im Alter von 87 Jahren gestorben.

Sein aus tiefer jüdischer Frömmigkeit inspiriertes Werk verdient es nach meiner Meinung, wieder und wieder gelesen zu werden. Denn in seinen Romanen und Erinnerungen, Essays und Reden spiegelt sich das Ringen eines Versehrten um den Gott Israels mitsamt den Zweifeln am Bundesversprechen gegenüber seinem Volk, das sich im Holocaust dann so verlassen fühlte.

Blick ins Dunkle.
Pei-Bau des DHM, Berlin-Mitte, 2015.
In dem Dokumentarfilm "Herr Zwilling und Frau Zuckermann" von Volker Koepp erzählt die greise Frau Zuckermann von einem Jom Kippur in ihrer Heimat, die ganz nahe der Heimat Wiesels liegt:
"Alle Juden und Jüdinnen sind in den Tempel ..., in den 55 Synagogen, die es in Czernowitz gegeben hat, gesessen und haben Gott gebeten um ein gutes Schicksal. Und nachher hat Gott sie alle betrogen und hat ihnen das böseste Schicksal beschert, das es überhaupt ..., das überhaupt einen Menschen treffen kann."

Dieses Gefühl des Verratenseins kannte auch Wiesel gut. Er fand sich in ständigem Fragen nach diesem Gott, den er im Talmudstudium aus den Gedanken der Alten kennengelernt hatte und der nun nicht mehr verstehbar war. Gleich der biblischen Hiobsgestalt versuchte er an Gott und am Glauben an den Menschen festzuhalten:
"Ich ziehe es vor, mich auf die Seite Hiobs zu stellen, der die Fragen und nicht die Antworten, das Schweigen und nicht das Reden gewählt hat. Hiob hat seine eigene Tragödie niemals begriffen, die letzten Endes nur die Tragödie eines von Gott verratenen Menschen ist; ungleich schwerer wiegt es, von seinesgleichen verraten zu werden."1

Doch es gab keine gültigen Antworten mehr über die Menschen und keine brauchbare Rede mehr über Gott. Der Kulturbruch, den das fabrikmäßige Morden in Auschwitz darstellte, stellte für Gläubige wie für Ungläubige alles in Frage – vor allem angesichts dessen, dass das Leben einfach weiterging. Im Gespräch mit Jorge Semprun drückt Wiesel das Dilemma der Zeugen so aus: "Schweigen ist verboten, Sprechen ist unmöglich."2
Darum und trotzdem stellte Wiesel sein Leben nach dem Krieg in den Dienst der Versöhnung und der Verständigung, trotz aller Ernüchterung.

Er wählte den Weg des Schreibens und des Sprechens über seine Erfahrungen. Es ging um das Mitteilen des Unglaublichen, dass auch nach dem Überleben, im Gefühl der Schuld gegenüber den Toten, noch Dank und Glaube möglich ist: "Keiner ist so der Dankbarkeit fähig wie jemand, der dem Königreich der Nacht entkommen ist. Wir wissen, dass jeder Moment ein Moment der Gnade ist, jede Stunde ein Geschenk; sie nicht zu teilen hieße sie zu verraten."3

Die Verantwortung für das Kommende dagegen sieht er in die Hände der Menschen gelegt. So lässt er seinen Romanhelden Gregor aus "Die Pforten des Waldes" sagen:
"Ob der Messias kommt oder nicht, gleichviel. Wir werden ohne ihn auskommen müssen. ... Wir werden aufrichtig sein, demütig und stark, dann wird er kommen, tausendmal am Tag. Er wird kein Gesicht haben, denn er wird tausend Gesichter haben."4

Das ist Gottes Gegenwart unter den Menschen, das ist die Aufgabe der Menschen, unsere Aufgabe, nicht die Hoffnung auf das Gute zu verlieren. 
Elie Wiesel hat sich dieser Aufgabe bis zu seinem Tod gestellt.

Friede seinem Andenken.

Baustoffreste. Schöneberg, Berlin, 2016.

1   E. Wiesel, Gesang der Toten. Erinnerungen und Zeugnis. Freiburg i.Br. 1987, 160f.

2   E. Wiesel / J. Semprun, Schweigen ist unmöglich. Frankfurt a.M. edition suhrkamp 2012, 18.

3   E. Wiesel, Gesang der Toten. A.a.O., 180f.


4   E. Wiesel, Die Pforten des Waldes. Frankfurt a.M. 1986, 289.