Freitag, 15. Juli 2016

Immerwährendes Gebet vor dem Abgrund - "Die Markus-Version" von Péter Esterházy

Kurz vor seinem gestrigen Tod habe ich das letzte Buch von Péter Esterházy gelesen: "Die Markus-Version". Es handelt sich um eine formal sehr extravagante Geschichte, in der ein sich taubstumm gebenden Junge als Ich-Erzähler von sich und seiner Familie im kommunistischen Ungarn erzählt. 

Die fromme Großmutter und die vertriebenen Großbauern, der trinkende Vater und die distanzierte Mutter, der auftrumpfende Stiefbruder und immer wieder sexuelle Gewalt werden auf gut 100 Seiten angedeutet und zu einem irrlichternden Panorama über existenzielle Fragen von Glauben und Unglauben aufgestellt. Daneben öffnet Esterházy immer wieder Teile des Geschehens auf das Markus-Evangelium hin und lässt den Ich-Erzähler in eine sehr eigenwillige Identifikation mit dem unverstandenen und leidenden Jesus gleiten.

Reste vom Ei in dunklem Wasser. Rixdorf, Berlin, 2016.
Ehrlich gesagt, es handelt sich um ein eher anstrengendes Buch: kein durchgehender Erzählfaden, Begrenzung von einzelnen Sinnsequenzen auf maximal eine Seite, nicht immer nachvollziehbare Bezugnahmen auf das Markus-Evangelium, distanziert bleibende Figuren und als Handlung merkwürdig blasse, manchmal ins traumhafte gleitende Szenen.
Daneben finden sich viele innere Dialoge und Reflexionssequenzen, die unterschiedlich gut in das Geschehen eingefügt sind und oftmals auf Assoziationen des Autors zu eigenen und fremden Werken beruhen, wie ein umfagreicher Anmerkungsapparat am Ende kundtut.

Kein wirklich entspanntes Lesevergnügen also.

Trotzdem werfen, gerade vor dem Hintergrund von Esterházys Tod, einige spannende Sätze und Gedanken ein neues Licht auf das Ringen um den Glauben, zumal angesichts von Ungerechtigkeit und Leid in der Welt.

"Im Prinzip thront dort, wo die Wolke ist, der Herrgott. Aber schon wird sie vom Wind auseinandergeweht. Mein Bruder meinte, auf Golgatha wehte pausenlos der Wind."1

Verweht der Glauben so leicht? Zerstreut das Geschehen auf dem Todesberg Jesu den Glauben an Gott oder festigt es ihn? Es ist dieses Wehen und Wirbeln, das den jungen Ich-Erzähler und seine Zeit erschüttern. Die klassische Theodizeeproblematik erscheint mit der Vorstellung des guten Gottes angesichts des Schmerzes und des Bösen in der Welt: „Es gibt also den guten Gott, den gütigen Gott, deshalb sagen wir auch ‚Grundgütiger‘, und es gibt das Schluchzen auf der Erde, weil etwas schmerzt. Das bedeutet, das Gute und das Schluchzen, das kann man nicht verstehen. Dieses Rätsel ist Gott.2

Während manche an diesem Rätsel verzweifeln, wird der Ich-Erzähler immer wieder zur Wirklichkeit Gottes hingezogen – und zwar durch das Gebet. Vorbild ist die ständig betende Großmutter, die er als Kontrast zur gottfernen Mitwelt, aber auch als Kontrast zu sich selbst und seiner magischen Gebetspraxis erfährt : „… ich bete, um zu glauben. Glaube ich. Damit jemand ist, an den ich glaube. Damit Gott ist. Deshalb muss ich ständig beten. Wie der Herzschlag, ohne auszusetzen.“ – Die Großmutter dagegen ist ruhig, denn „Gott beruhigt sie.“3 Und das färbt ab. 

Versperrter Himmel? Frauenhagen, Brandenburg, 2016.
Denn auch der Erzähler selbst rückt immer weiter hinein ins Gebet – und trotz aller äußeren Ärgernisse und Widrigkeiten, Todesfällen und Abschieden, wird die Erinnerung an Gott zum stärkeren und festeren Gebet, das eine eigene Kraft entfaltet: „Alle Gebete sind eines. Nur die Wörter der Gebete unterscheiden sich, doch die Wörter spielen keine Rolle. … Man muss nicht mit eigenen Worten beten. Das Gebet ist nicht da, es kommt.“4 Mit dieser Art von Reflexion setzt Esterházy natürlich nicht mehr die Psyche eines Kindes voraus, sondern übersteigt seine Handlung trotz ihrer relativ einfachen Sprache in mystische Aussagen. Die Stärke des Buches liegt für mich gerade hier: religiöse Grundbegriffe jenseits von konfessionellen Verständnisvoraussetzungen werden in die Geschichte eingetragen und helfen ihr mehr noch als die lutherdeutschen Passagen aus dem Markus-Evangelium zu Stringenz.

Doch auch ganz profane Zweifel kommen immer wieder zu ihrem Recht: „Das Gebet ist das vielmalige Wecken des Gedächtnisses des Herzens. Man muss sich häufiger an Gott erinnern, als wir Luft holen. Barmherziger Gott, verlass mich nicht. Wie weiter? Darauf erwarte ich von dir eine Antwort, denn das ist meine Frage. Du pflegst zu antworten, indem du nicht antwortest. Du kannst schön schweigen, mein Herr. Wenn ich dich frage, schweigst du, und wenn es keine weiteren Fragen mehr gibt, wird das die wahre Antwort sein. Dennoch frage ich jetzt, zu welchem Ende. Wer bist du, mein Herr, und wer bin ich? Ich weiß, eine schlechte Frage. Mach mich sehen. Erfülle die toten Adern meines einsamen Herzens, himmlische Güte.“5
Eingebettet in einen Dialog mit Gott aber ist zweifeln und ist sogar die Verzweiflung ein Glaubensakt und eine Hinwendung in die Beziehung mit Gott. Selbst Gottes Schweigen erscheint dann als Bestätigung seiner Existenz und Zuneigung, wenn die eigene Erdenschwere es auch nicht zu fassen vermag.

Angesichts der eigenen vorgespielten Taubstummheit des Erzählers erscheinen solche Aussagen über Gottes "schönes" Schweigen nun in anderem Licht.
Denn obgleich die Rätselhaftigkeit Gottes und die des Menschen einander sehr ähnlich sind, konstatiert Esterházy hervorgehoben mit einem einzigen Satz auf Seite 70: „Nein, Gott ist kein Vorbild.“6
Und durchschlägt auch diese Aussage wieder durch die nebenlaufenden Passagen aus dem Evangelium, in denen alles auf die zunehmende Einsamkeit Jesu und in seiner Nachfolge des Erzähler-Ichs hinausläuft. 

Mit Jesu Tod in des Jungen Worten endet auch das Buch: "Aber ich schrie laut und verschied."7
Beziehungsweise endet es fast – denn die Geschichte von 100 Seiten streckt das Sterben Jesu über drei Seiten, die Seite 100 heißen und denselben Text aus Mk 15,37-39 bieten. 

Nur die dritte Seite 100 ergänzt dazu als Anschluss an den Beginn den Anfang des Markus-Evangeliums und kommentiert voll mystisch belebter Hoffnung auf ein Weiterleben über den gerade geschilderten Tod hinaus: "Es gibt kein Ende. Das ist der Schluss."8
 
Möge dies auch für Péter Esterházy selbst gelten.

Alter Wasserturm und wilder Platz unter großem Himmel. Teupitz, Brandenburg, 2016.

1   P. Eserházy, Die Markus-Version. Einfache Geschichte Komma Hundert Seiten. München 2016, 91.
2   Ebd., 14.
3   Ebd., 21.
4   Ebd., 78.
5   Ebd., 83.
6   Ebd., 70.
7   Ebd., 100.101.102.
8   Ebd., 102.