Sonntag, 7. August 2016

"Bleib treu und geh." Über Polens katholische Kirche – Ein Nachtrag zum Weltjugendtag

Gerade bin ich aus Krakau zurückgekommen.
Der Weltjugendtag war bei unserer Ankunft zwar schon vorbei, aber die Atmosphäre der Stadt war durch noch umherziehende Pilgergruppen, Tanzgesänge des Neokatechumenats und vor allem die allgegenwärtige Beschilderung noch noch stark geprägt von diesem Ereignis.
Schon im letzten Jahr hatte ich einige Reflexionen zur aktuellen innenpolitischen Rolle der Kirche geschrieben, jetzt möchte ich noch einen weiteren kurzen Blick auf die besondere Rolle der katholischen Kirche in Polen werfen.

Das Kreuz vom Abbau noch unberührt.
Blonia, Kraków, 2016.

Während des Weltjugendtags rief Papst Franziskus wieder dazu auf, Grenzen zu überwinden, Flüchtlinge aufzunehmen und sich für die Randständigen einzusetzen. In einer Predigt forderte er die Jugendlichen auf: "Habt den Mut, uns zu lehren, dass es einfacher ist, Brücken zu bauen, als Mauern zu errichten"

Zu solchen Meinungsäußerungen des Papstes gibt es eine nicht zu leugnende Distanz der polnischen Bischöfe und PolitikerInnen. Seine politischen, kirchlichen und theologischen Akzente passen nicht in die konservativ agierende Politik und in das nationale Abgrenzungsbedürfnis vieler Katholiken. Das gilt vor allem dann, wenn es um politische und kirchenpolitische Identitätsmarker wie die Frage der Aufnahme (muslimischer) Flüchtlinge in Polen geht oder um die leichten Verschiebungen der Ehe- und Sexualmoral in "Amoris Laetitia" hin zu einem differenzierteren, auf das individuelle Gewissen achtenden Umgang mit moralischen Konfliktsituationen.
Auf die Aufforderung des Papstes hin, sich für Flüchtlinge zu engagieren und sie aufzunehmen, stimmen polnische PolitikerInnen pflichtschuldig zu und betonen gleichzeitig, dass man im Nahen Osten den Menschen helfe, nicht zu fliehen. An anderer Stelle wird dann wieder bestätigt, dass man an die Aufnahme von Flüchtlingen in Polen weiterhin nicht denke. Eine größere Heuchelei und Wortverdrehung als diese Doppelzüngigkeit der durchweg katholischen Akteure ist schlecht zu denken.

Dagegen ist zu betonen: Wer auch nur einen flüchtigen Blick in die polnische Geschichte wirft, kann ohne Weiteres verstehen, dass nationale Integrität und staatliche Souveränität einen besonders hohen Wert darstellen. Allein das Verschwinden Polens von der europäischen Landkarte im Zuge der polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert, der Zangengriff von Hitler und Stalin im Zweiten Weltkrieg sowie der sowjetisch oktroyierte Kommunismus nach 1945 lassen erkennen, dass die Furcht um den Verlust der staatlichen Kontrolle oft sehr reale Wurzeln hatte. Nicht zuletzt die Verhängung des Kriegsrechts 1981 wurde von General Jaruzelski immer wieder damit begründet, dass nur so ein Einsatz des sowjetischen Militärs zur Niederschlagung der Streikenden abzuwenden gewesen sei.
Ich kann darum in gewissen Grenzen nachvollziehen, dass Abtretungen staatlicher Souveränität an die Europäische Union, wozu möglicherweise auch Quoten zur europaweiten Verteilung von Flüchtlingen gehören mögen, nicht einfach zu vermitteln sind und Widerstände hervorrufen können, wie sie, das ist nun kritisch anzumerken, von der jetzigen Regierung emotional und populistisch zu nationalen Identitätfragen hochgekocht werden.
Verbleibende Zeltflecken. Na Skalce, Kraków, 2016.
Hier wäre die Möglichkeit für die Kirche gewesen, gegen diese nationalistischen Verengungen einen typisch christlichen ethischen Universalismus stark zu machen. Doch erst kürzlich schwenkten einige Bischöfe auf die Linie des Papstes bezüglich der Flüchtlingsfrage ein.

Im Hintergrund dieser Identitätsfragen auch hier wieder die Geschichte:
Die katholische Kirche war in allen Umbrüchen eine der stärksten Bastionen des Polentums - ihre patriotischen Aktivitäten mussten oftmals fehlende staatliche Souveränität ersetzen. So war die Kirche, zumal nach 1945 eine Art oppositioneller polnisch ausgerichteter Staat im kommunistischen Staate. Mit Blick auf das halbe Jahrhundert unter dem Kommunismus kann man dem liberalen Intellektuellen Adam Michnik beipflichten, der noch 1990 konstatiert: "Die Kirche hat es großartig verstanden, sich gegen den atheistischen Kommunismus zu wehren, sich ihre Souveränität in einem totalitären Staat zu bewahren. Diese Kirche versteht sich aber nicht auf das Zusammenleben innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft. Denn im Pluralismus zu leben, heißt auch zur Selbstbeschränkung fähig, sich des Zusammenlebens mit anderen bewußt und zur gemeinsamen Gestaltung dieses Zusammenlebens imstande zu sein. Die jüngsten Erfahrungen stimmen nicht sonderlich positiv."1

Die aktuellen Erfahrungen sind nicht dazu angetan, diese letzte Feststellung grundsätzlich umzuwerfen. Außerdem hat die so genannte "Lustracja", also die Durchleuchtung vieler Biographien auch kirchlicher Amtsträger, inzwischen Dokumente der Geheimdienste zutage gefördert, die auf eine stärkere Zusammenarbeit einiger Kirchenmänner mit den Kommunisten schließen lassen, als das lange Zeit für möglich gehalten wurde (beispielhaft sei der 2007 ernannte Warschauer Erzbischof Wielgus genannt, der noch vor der Amtseinführung abdankte).
Das Bild der Kirche als Bollwerk gegen den Kommunismus hat also Risse bekommen. Dagegen hilft auch nicht ein nationaler Märtyrer wie Jerzy Popieluszko oder die ständige Betonung der großen Liebe zu Papst Johannes Paul II. und seiner sicher nicht unbedeutenden Rolle im Umbruch von 1990 nicht viel weiter.

Fahne des Weltjugendtages, unbeschattet.
Kosciol Sw. Katarzyny, Kraków, 2016.
Zugleich ist eine zunehmend plurale und mobile Gesellschaft, wie es eben auch die polnische ist, nicht mehr mit lehramtlicher Verlautbarung und kirchenrechtlicher Gängelung von Politikern zu behandeln, wenn, wie im letzten Jahr geschehen, Gesetze erlassen werden, die nicht im Geist der katholischen Moraltheologie geschrieben sind.

Die Kirche muss nicht mehr Staat machen und sollte es auch nicht tun. Unwidersprochen hat sie viele Verdienste auch in der nach und nach reifenden Unterstützung der Solidarność-Bewegung und als Motivatorin im Hintergrund. Doch der große Feind ist verschwunden und es ist möglich, ein kirchliches Leben ohne neue identitätsstiftende Feindbilder (wie den Liberalismus) aufzubauen. Doch das ist nicht einfach. Würde die Kirche sich heute im Sinne der katholischen Soziallehre mehr für die Rechte der Angestellten und Arbeiter einbringen, stünde sie näher bei ihrer Sendung, als wenn sie sich weiterhin als Opposition gegen scheinbar unpatriotisches Denken gebärdet (wie sie es zum Glück nur noch in Teilen tut).

Wenn der Papst nun in Polen die Jugendlichen aus aller Herren Länder auffordert, nicht auf den Sofas zu verharren, sondern aufzustehen, ihr Leben mit Christus zu führen und es in die eigene Hand zu nehmen, dann kann ich nur hoffen, dass die Polen unter diesen Jugendlichen in diesem Geist (und gestärkt von den Erfahrungen des Weltjugendtags) mehr und mehr in einer internationalen Welt ankommen, die sich nicht abschottet, sondern Brücken baut. 
Dass die junge Generation der Polen nicht aus Angst, sondern aus positivem Selbststand, nicht aus Abgrenzung, sondern wohlwollender Offenheit lebt - und dabei gut katholisch bleiben kann. 
Und dass dies auch in den Kirchenspitzen ankommt.

Oder mit den Worten des polnischen Dichters Zbigniew Herbert, die auch von Papst Franziskus stammen könnten:

"Steh auf und geh geradeaus.
Fühl dich frei.
Bleib treu und geh."2

Pilgerreste am Wislaufer. Kraków, 2016.

1   A. Michnik, Der lange Abschied vom Kommunismus. Reinbeck bei Hamburg 1992, 82f.
2   Z. Herbert, Das Land, nach dem ich mich sehne. Lyrik und Prosa. Frankfurt a.M. 1987, 268. Zit. n. T. Mazowiecki, Partei nehmen für die Hoffnung. Über Moral in der Politik. Freiburg i.Br. 1990, 152.