Montag, 8. August 2016

"Komm, wir gehen für unser Volk!" Das jüdisch-christliche Martyrium der Edith Stein

Der Gedanke vom Mit-Leiden mit Christus als dem Gekreuzigten prägte Edith Stein so sehr, dass sie als Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce wählte, also "Theresia, die vom Kreuz gesegnete". Darin drückte sich einerseits ihre Verehrung für Teresa von Avila aus, deren Autobiographie sie 1921 zum entscheidenden Schritt in den christlichen Glauben bewegte, andererseits bezieht sie sich mit diesem Namen auf Johannes vom Kreuz, dessen Werk sie in ihrer "Kreuzeswissenschaft" systematisch durchdeklinierte.

Schließlich aber wird ihr Name auch sprechend und ganz und gar praktisch durch ihr eigenes Sterben am 9. August 1942 in Auschwitz.
Doch klargestellt werden muss auch: Edith Stein, die Christin gewordene Jüdin, die Philosophin und Karmelitin, wird ermordet, weil sie Jüdin war, nicht weil man ihr Christsein bestrafen wollte. Insofern ist sie eines der vielen Opfer des Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten, der auf das Bekenntnis nicht achtete, sondern nur auf die biologische Herkunft.

Ihr Platz in der Mitte. Rixdorf, Berlin, 2016.
Doch diesem rassischen Denken gegenüber steht das theologische Selbstverständnis Edith Steins, die sich selbst als solidarisch mit dem Volk ihrer Herkunft verstand und zugleich das christliche Verständnis stellvertretender Sühne adaptierte. So schreibt Papst Johannes Paul II. 1999, anlässlich der Ernennung zur Mitpatronin Europas:
"Sie machte sich insbesondere das Leiden des jüdischen Volkes zu eigen, je mehr sich dieses in jener grausamen nazistischen Verfolgung zuspitzte, die neben anderen schwerwiegenden Äußerungen des Totalitarismus einer der dunkelsten Schandflecke Europas in unserem Jahrhundert bleibt. Da ahnte sie, daß in der systematischen Ausrottung der Juden ihrem Volk das Kreuz Christi aufgebürdet wurde. Als persönliche Teilhabe an diesem Kreuz erlebte sie ihre eigene Deportation und Hinrichtung in dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau."1

Die Formulierung ist mit Bedacht gewählt – sie selbst deutete ihr Schicksal theologisch; was uns aber nicht berechtigt, diese christologische Deutung auch auf alle anderen Opfer der Massenvernichtung der Nazis anzuwenden. Eine Vereinnahmung jüdischer Opfer durch christliche Stellvertretungstheologie verbietet sich von selbst.2

Die christliche Selbstdeutung ihres eigenen Todes auf das Kreuz Christi hin in Verbindung mit ihrem freiwilligen Gehen aber ist dann eben auch Edith Stein nicht abzusprechen. Letzteres offenbart sich besonders in den Worten zu ihrer in den Karmel geflüchteten Schwester Rosa kurz vor der Deportation: "Komm, wir gehen für unser Volk."3 Darin offenbaren sich ihre innere Verbundenheit mit der eigenen Herkunft und ein (sicher nicht unproblematisches4) christliches Sühnedenken.

Dementsprechend summiert G.M. Schmitt in einem Beitrag über Edith Stein als Jüdin und Christin die Meinung vieler katholischer Theologen:
"Wenn Edith Stein sich mit dem Leidensweg ihres Volkes solidarisch zeigte, und wenn sie in freier Hingabebereitschaft der Liebe Christi wegen ihrem persönlichen Sterben den Charakter des Für-Seins Gottes für die Menschen einprägte, dann könne wohl der Sinn des christlichen Martyriums erfüllt sein. Auch wenn die Henker von diesen Zusammenhängen nichts ahnten, ändere sich an dieser Sinngebung nichts."5

Vergossen. Grünheide, 2016.
Derart lässt sich Edith Steins Leben und Sterben durchaus als christliches Zeugnis für den Glauben an das Leben und Sterben Jesu und ein Hineingehen in sein Schicksal deuten.

Doch was, von einem vielleicht aufrichtigen und leidensbereiten Vorbildcharakter abgesehen, geht uns das an, wenn unsere Spiritualität und Sehnsucht vielleicht nicht auf eine solch konkrete Kreuzesnachfolge hin ausgerichtet ist?
Der Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar erläutert zur Aussendungsrede Jesu in Mt 10,16-39, dass die Warnung vor den Wölfen, in welcher Gestalt sie in den Jahrhunderten auch immer gegenüber den Christen auftreten, "nicht eine Eventualität meint, sondern das Unvermeidliche",6 weil Glauben heißt: "mit dem ganzen Dasein danken dafür, daß man sein ganzes Dasein dem historischen Jesus verdankt. Und da ich ihm mein Dasein nur deshalb verdanke, weil er sein Dasein für das meine preisgegeben hat, ist dieser Dank auch nicht anders auszusprechen als mit dem ganzen Dasein."7
Darum ist Glaube im christlichen Sinn immer schon "Vorwegnahme meiner Lebenshingabe an Christus"8 und das tatsächliche Martyrium als Bekenntnis dieses Glaubens mit dem eigenen Leben nur dessen Entfaltung in den existenziellen "Ernstfall" hinein.

Kniee ich vor diesem sich am Kreuz hin- und preisgebenden Gott nieder, drücke ich damit mein demütiges Vertrauen zu seiner Liebe und Liebesgröße aus. Von Balthasar formuliert den nächsten Schritt trinitätstheologisch rückgebunden: "Aus der geöffneten Trinität, die zugänglich wird im geöffneten gebrochenen Herzen am Kreuz, strömt das Urgeheimnis der unvordenklichen ewigen Liebe hervor, und von dorther, davon überwältigt, öffnet der Christ sein Herz (grenzenlos bis zum Tod) dem Bruder."9

Dieses liebevolle Offenwerden für die Nächsten angesichts der schmerzhaften Offenheit Gottes war auch für Edith Stein zentrales Element ihrer mystischen Gottesbeziehung. Aus dieser Gottesbeziehung konnte sie den Weg in den Tod von Auschwitz als Jüdin und Christin gehen. 

Hingegeben. Rixdorf, Berlin, 2015.

1   Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben als „Motu Proprio“ erlassen zur Ausrufung der hl. Birgitta von Schweden der hl. Katharina von Siena und der hl. Teresia Benedicta a Cruce zu Mitpatroninnen Europas, 01.10.1999, 9. Zu finden unter: http://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/motu_proprio/documents/hf_jp-ii_motu-proprio_01101999_co-patronesses-europe.html.
2   Vgl. dazu G.M. Schmitt, Edith Stein – Jüdin und Christin. In: GuL 1/1999, 24-38, 29f.34. Zu finden unter: http://gul.echter.de/component/docman/doc_download/3630-72-1999-1-024-038-schmitt-0.html.
3   Edith Stein, zit. n. ebd., 29.
4   Vgl. sehr erhellend ebd., 32ff.
5   Ebd., 35.
6   H.U.v. Balthasar, Cordula oder der Ernstfall. Einsiedeln 1966, 11.
7   Ebd., 17.
8   Ebd., 19.
9   Ebd., 106.