Freitag, 2. September 2016

Uralt-frischer Quell – Ein Gedanke von Hans Urs von Balthasar

Was nützt es uns heute, dass Gott sich vor 2000 Jahren in Jesus Christus gezeigt hat und was hat es mit unserem Leben zu tun?
So müssen sich wohl viele Nichtchristen (und Christen) fragen, denen nicht spontan ein tragfähiger Sinn aus der Gottesoffenbarung in Jesus Christus aufgeht. Zudem scheint sich der kirchliche Ballast theologischer Gedankengebäude aus vielen Jahrhunderten zwischen uns und dieses Ereignis zu drängen, so dass ein persönliches Angesprochensein durch Jesus Christus und seine Botschaft noch schwieriger wird.
Wenn sich in unsicheren Zeiten dann theologisch konservative Gruppen verstärkt auf den Wert kirchlicher Traditionen berufen, stellt sich die Frage, wie die Botschaft von Jesus noch als persönliches Wort an einen Menschen im Heute ankommen kann.

Klarer Blick. Blumenstiele, 2015.
Angesichts dieser Konstellation hat sich Hans Urs von Balthasar in seinen frühen Jahren einige Gedanken in der Schrift "Schleifung der Bastionen" gemacht, die ich auch heute noch für bedenkenswert halte. Als Basis des Christseins zeigt er die unmittelbar persönliche Inanspruchnahme durch Gott selbst auf, die sich nicht hinter den (unweifelhaft großen, aber eben auch oft missgreifenden) Zeugnissen der Vergangenheit verstecken darf. Wir sehen, "daß alles vordem Realisierte noch nicht das ist, was Christus jetzt, unmittelbar von mir, von dir, von unserer Generation verlangt, daß Geschichte für diese Stunde keine Lösung weiß (aus dem einfachen Grunde, weil sie Geschichte und nicht Gegenwart ist) und daß durch dieses Nichtwissen der Geschichte der Blick frei wird auf das Evangelium".1

Dieser freie Blick auf das Evangelium und die Ur-Kunde von Jesus ist das Entscheidende, das hilft, das von uns "verlangte" zu erkennen. Selbstverständlich soll man sich gerade darum auch mit der theologischen Tradition (in ihren hilfreichen und problematischen Aussagen) auseinandersetzen – diese darf aber nicht zum Eigentlichen werden. Mit den Worten von Balthasars: "Tradition innerhalb des christlichen Denkens und Lebens kann nichts anderes sein: sich von der geistigen Kraft der frühern Generationen tragen zu lassen, um selber lebendig dem Mysterium zu nahen".2

Der freie Blick soll zur eigenen Begegnung führen. Es geht damit um christliches Leben und Denken im Heute, das die Tradition durchaus ernsthaft zur Kenntnis nimmt, sich aber nicht von ihren Begriffen und Gedanken bestimmen lässt, sondern Gott selbst in dieser Zeit findet.
Das bedeutet "das Herabsteigen der Kirche in die Fühlung mit der Welt",3 eine Solidarisierung mit der Gegenwart, die später in den Worten des Zweiten Vaticanums in der Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" neu begegnet: "es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren [der Christen] Herzen Wiederhall fände." (GS 1)

Leider trifft sich dieser Anspruch auch heute nicht immer mit der Wirklichkeit. Gerade deshalb können von Balthasars Gedanken immer noch helfen, weder die Gegenwart noch eine Tradition absolut zu setzen, sondern sich ganz auf die stets frisch-gegenwärtige Quelle seiner Anwesenheit unter den Menschen auszurichten.
Mehr Transparenz. Eisfläche auf der Spree, Berlin, 2014.

1   H.U. v. Balthasar, Schleifung der Bastionen. Von der Kirche in dieser Zeit. 5. Aufl. Einsiedeln, Trier 1989, 16.
2   Ebd., 21f.

3   Ebd., 79.