Donnerstag, 20. Oktober 2016

Für wen halten mich die Leute? Erste Gedanken als Gefängnisseelsorger

Die Frage, die ich mir bei meiner neuen Tätigkeit als Gefängnisseelsorger am häufigsten stelle, ist tatsächlich die: Wer bin ich für diese Leute, für die ich hier bin, die ich besuche, die mit mir sprechen wollen, mit denen ich versuche, dienstlich zu kooperieren, die mir einen Antrag schreiben oder mich einfach so anquatschen, die mich hinein und wieder hinaus lassen, die mich von ferne sehen, die, auf deren Hilfe und Zuarbeit ich angewiesen bin...
Oder, um es mit Jesus zu sagen: "Für wen halten mich die Leute?" (Mk 8,27)
Da liegt auch schon die erste Antwort, die sich von der Person Jesu und den an ihn gestellten Erwartungen absetzt – für einen Heilsbringer scheinen mich die wenigsten zu halten. Allerdings halten auch die wenigsten derer, mit denen ich spreche, Jesus für einen solchen...

Was ist das für uns?
Kirche St. Canisius, Charlottenburg, 2014.
Die schönsten bisherigen Begegnungen waren die, die am ehesten erwartbar sind: Wer einsam ist oder wer gravierende familiäre Umbrüche hilflos im Gefängnis sitzend miterleben muss, der braucht bisweilen einfach jemanden zum Reden. Einen, dem man vertrauen kann und der beim Hören vielleicht auch die eine oder andere Blickrichtung öffnen kann. Einen, der tröstet und der ein Gebet für einen sprechen kann.
Für einen solchen bin ich Hörender und Tröstender, Ratgeber und Betender. Das gefällt mir, wenn es auch nicht immer einfach ist. Hier scheint mir auch eine echte Not zu stecken.

Die häufigsten Begegnungen dagegen gehen in eine andere Richtung: Es herrschen im Gefängnis eine Reihe materieller Bedürfnisse, die besonders hervortreten, wenn sonst wenig Ablenkung geboten wird: so werden die alltäglichen Süchte kleine Möglichkeiten, sich freier zu fühlen von alltäglichem Zwang und Druck, von seelischer Not und Angst.
Ein Lieferant von Kaffee, Tabak und Zucker, das scheine ich für diese große Gruppe zu sein. Da beginnt ein Gespräch mit: "Ich habe eine Menge Probleme. Und ich würde Sie gern um Tabak bitten." Natürlich freue ich mich, wenn ich nicht lange hingehalten werde und jemand nicht der Meinung ist, mir viel vorspielen zu müssen.
Aber bei allem Verständnis für den Suchtdruck und die genannten Bedrängnisse sehe ich da nicht meine Hauptaufgabe. Zumal sich auch nach einer Notversorgung in der Regel keine tiefgehenden Gespräche über die kurz angedeuteten Probleme ergeben. Das ist auch gar nicht nötig, schließlich ist jeder frei, sich in diesen Dingen auszusprechen oder nicht.
Diese materielle Erwartungshaltung aber ist ein wirklicher Zwiespalt für mich. Überspitzt ausgedrückt, lautet die mich dabei bechäftigende Frage: Lasse ich Gottes Liebe vielleicht auch durch eine Tabakspende aufleuchten – oder bediene ich einfach nur die niederen Instinkte derer, die mein Wohlwollen ausnutzen und ihre Süchte füttern?

Für manche bin ich einfach eine willkommene Abwechslung, also einer, mit dem man nebenbei mal plaudern kann und der vielleicht was springen lässt, ohne dass man zu sehr betteln muss. Gute Laune bringe ich ja ebenso gern wie ein aufmunterndes Lächeln mit. Auch da mag ja ein Zipfel des göttlichen Glanzes für den einen oder anderen hervorschauen.

Wo ist nun Kirche?
Marktkirche Unserer lieben Frauen von unten.
Halle / Saale, 2016.
Für manche Beamte wiederum bin ich ein komischer Störenfried, der Arbeit macht. Nicht für alle, beileibe nicht! Aber hier prägen jene mein subjektives Bild, die mir deutlich machen wollen, dass ihnen nichts an mir liegt. Zugleich scheinen die wenigsten etwas anfangen zu können mit meiner Arbeit. Auch hier: müssen sie nicht, nur sollen die Inhaftierten eben die Möglichkeit haben, ihre Religion frei auszuleben.
Und da stelle ich schon manchmal fest, dass ich ein anderes Menschenbild mitbringe. Doch vielleicht liegt das an meiner mangelnden Erfahrung. Schließlich habe ich nicht die Vielen hinaus- und dann wieder hereinkommen sehen in langen Dienstjahren. Und ich muss auch niemanden einschließen, der das gerade nicht will oder Disziplinamaßnahmen ausführen oder für Ruhe sorgen. Insofern habe ich schon eine dankbare Rolle.
Mein Respekt für die Beamten, die jahrein und jahraus in guter Weise mit Inhaftierten umgehen. Die machen es einem oftmals schließlich auch nicht leicht. 
Und ein gotthöriger Störenfried in einem System der Unfreiheit sein - das ist so weit von Jesus auch nicht entfernt...

In einem Fall wurde ich schon als Exorzist angefragt, eine Rolle, die mir abseits der mangelnden Beauftragung und Befähigung auch gar nicht liegen würde.

Auch nach Gottesdienst und Beichten fragen die Inhaftierten – und gern singe und bete ich in Wortgottesdiensten mit einer feiernden Gemeinde. 

Und natürlich bin ich der von der Kirche - vor allem als Nachfolger meiner Vorgänger und als Kollege der Seelsorger dort und dort und dort merke ich, dass ich in ein großes Netz von Kirche hineingehöre - aber auch, dass bei Einzelnen viel Erfahrung mit der Seelsorge in Gefängnissen vorliegt...

Angesichts all dieser Zuschreibungen und Erwartungen, in denen ich auch meine an mich selbst gestellten Ansprüche und Erwartungen gespiegelt finde, fällt natürlich auch immer wieder die Frage auf mich zurück, wer denn dieses Gegenüber für mich ist.
Und da stelle ich nun fest, dass mein anspruchsvoll-hehrer Versuch, alle in jeweils ihrer Situation als Gottes Ebenbilder, ja als seine geliebten Kinder anzusehen, mir doch äußerst selten gelingt. Im unsteten Blick oder der rauen Gier oder der klaren Abneigung oder der abschätzigen Geste den von Gott geliebten und bedingungslos angenommenen Menschen zu sehen – puh, das ist nicht leicht. Hier brauche ich viel Übung mit dem barmherzigen Blick!

Immerhin, da ich selbst versuche, mich als Gotteskind dem jeweiligen Gegenüber zuzuwenden, kann ich wohl nicht auf dem ganz falschen Weg sein. Und ich beginne ja gerade erst...

Schläuche: Ausgang aus dem Loch. Neukölln, 2014.