Samstag, 12. November 2016

Keine Weltuntergangsstimmung, bitte! - Eine Predigt im Gefängnis

 Es ist so viel passiert, worüber man schreiben könnte... Stattdessen sei hier nur auf zwei Fundstücke im Netz hingewiesen.
Angesichts des Todes von Leonard Cohen ist hier einer seiner schönsten Songs, ein imaginärer (Liebes)Brief an einen ehemaligen Nebenbuhler: "Famous blue raincoat". 
Angesichts der Wahlen in den USA fand ich einen Text, der nicht Umfrageinstitute zerreißt, über Wählerverhalten aufklären will oder den Untergang der freien Welt wegen der Wahl eines solchen Egomanen an die Wand malt, sondern der kritisch-konstruktiv nach vorn schaut: "What do we tell the children?"

Und damit zu dem, was ich morgen so oder ähnlich im Gefängnis predigen werde:

1 Ein erster Blick auf den Text
Dieser Text aus dem Lukasevangelium (Lk 21,5-19) hat es in sich – es geht um die schlimmsten Krisen, die Menschen durchmachen können. Und auf den ersten Blick wirkt der Text wie eine große Angstmacherei.
Denn Jesus kündigt an, dass das Allerheiligste für die Juden der damaligen Zeit, also der Jerusalemer Tempel, zerstört werden wird. Und seine Freunde warnt er nicht nur vor Verfolgung und religiöser Irreführung, also davor, irgendwelchen Scharlatanen auf den Leim zu gehen, sondern auch vor der Auslieferung sogar von Seiten der eigenen Familie.
Doch seine Schreckensbotschaften bleiben nicht im konkreten Nahbereich, auch für die ganze Welt kündigt Jesus hier schreckliche Dinge an: Kriege, Seuchen und Erdbeben, Hungersnöte. 

Apokalyptisches Graffito. Neukölln, Berlin, 2016.
In dieser ungeheuerlichen Bedrohungskulisse dürfen allerdings zwei wichtige Botschaften nicht untergehen. Zum einen ist die Perspektive Jesu gar nicht die einer Drohung, vielmehr fordert er die Zuhörer auf: "Lasst euch dadurch nicht erschrecken!" (v9)
Zum anderen sagt er all jenen, die überall sofort den Untergang des Abendlandes bzw. der Welt zu erkennen glauben: "Das Ende kommt noch nicht sofort." (v9)

Wenn die Wirkung des Textes also apokalyptische Angst schürt, hat er sein Ziel verfehlt!

2 Historische und theologische Einordnung
Darum zunächst ein Wort zur historischen Einordnung. Als Lukas sein Evangelium schreibt – die Historiker schätzen die Zeit auf ca. 80 n.Chr. – ist Jesu Tod bereits ein halbes Jahrhundert her. Und in der Zwischenzeit gab es tatsächlich eine Reihe von Krisen, ähnlich den beschriebenen:
Nach dem Brand Roms machte Nero die Christen für die riesige Zerstörung der Metropole verantwortlich und ließ die ersten Anhänger Jesu grausam verfolgen. Durch ihr vorheriges öffentliches Bekenntnis zu Jesus, aber auch durch Denunziationen wurden Hunderte ausgeliefert und brutal hingerichtet.
Später, im Ersten Jüdischen Krieg von 66 bis 70 n.Chr., erhoben sich in Judäa Teile der jüdischen Bevölkerung gegen die Ausbeutung und Unterdrückung durch die Römer. Dieser sich ausweitende Aufstand wurde von römischen Truppen nicht nur blutig niedergeschlagen, sondern nach Einnahme Jerusalems wurde auch der Tempel von Titus bis auf die Grundmauern zerstört. (Der letzte sichtbare Rest dieser Mauern, die Westmauer – ist heute die weltbekannte Klagemauer.)
Und dabei war das Weltreich der Römer während dieser Jahre selbst in Gefahr – im so genannten "Vierkaiserjahr" 68/69 n.Chr. kam es zu dem ganzen politischen Chaos, von dem im Text die Rede war. Nicht nur, dass sich drei Soldatenkaiser nach Neros Tod gegenseitig bekriegten und lynchten, auch von einer Pest in Rom, einer Hungersnot in Alexandria, von Sonnernfinsternissen und  Rebellionen wird berichtet.1

Wenn dies also die politischen Hintergründe sind, vor denen Lukas schreibt, dann legt er Jesus nun nachträglich seine eigenen Erfahrungen in den Mund. Das mag man aus heutiger Sicht gutheißen oder nicht – sein Ziel jedenfalls war es, die christlichen Zeitgenossen auf diese Weise aufzufordern, angesichts dessen, was sie schon überstanden hatten, weiterhin am Glauben festzuhalten.
Auch weil das ersehnte Wiederkommen des Herrn und das tatsächliche Ende der Welt ausgeblieben waren, betont Lukas stattdessen nun "Wachsamkeit, Ausdauer und Stetsbereitschaft und begegnet auf diese Weise der Gefahr der Ermüdung, der Gleichgültigkeit und des Abfalls"2 vom Glauben. 

Biblische Graffiti. Leipzig, 2013.
3. Gegen Schreckhaftigkeit und für vertrauende Ausdauer
Ein Grundgedanke zieht sich durch den Text: wir brauchen uns nicht zu fürchten, denn Gott ist auf unserer Seite und unterstützt uns. Alles, was konfus macht und verwirrt, was erschreckt und ängstigt, hat nicht eine solche Kraft wie das Vertrauen auf Gott.

Weder die äußeren Krisen müssen uns erschüttern. Wir erkennen ja die Erfahrungen der damaligen Welt in unserer Welt gut genug wieder: Kriege und Terroranschläge, Erdbeben (derzeit immer wieder in Italien), Verunsicherung angesichts der Flüchtlingsbewegungen, Ängste vor anderen Religionen, Wahlergebnisse usw.

Wozu der Text angesichts der schrecklichen Welt auffordert: Wir sollen nicht in Schreckstarre verfallen oder panisch werden. Wir können uns engagieren; dort, wo wir sind, Gutes tun. Hier im Gefängnis mag es oft so wirken, als wären keine großen Auswirkungen unseres Handelns zu erwarten, aber auch hier ist jeder aufgerufen, im Kontakt mit den Angehörigen, mit den Mithäftlingen und den Beamten besonnen zu sein und im besten Fall ein Vertrauen auf Gott auszustrahlen.
Denn wir dürfen trotz aller Unruhe darauf vertrauen, dass Gott die Welt in seinen Händen hält.

Und auch die inneren Krisen kennen wir: das Verlassenwerden von der eigenen Familie, den Verrat seitens engster Vertrauter, die Irreführung durch Unruhestifter oder das Angefeindetwerden wegen des eigenen Glaubens.

Hier gilt es, seine eigenen Kraftquellen gut zu kennen. Niemand muss die ganze Last der Haftzeit allein tragen. Auch wo einer keinen oder nur wenig Kontakt zur Familie hat, auch wo sich Freunde während der Haft abgewendet haben oder wo die Tatsache, hier im Gottesdienst zu sitzen, bei den Kollegen auf Station nur Grinsen hervorruft – auch und vielleicht gerade dort können wir darauf vertrauen, dass Gott uns nahe sein will.
Denn genau deshalb ist er ja Mensch geworden – dass wir unsere Nöte nicht allein schleppen müssen. Dass wir uns auf den in unseren Krisen mitgehenden Gott verlassen können. Dass wir nicht ins Leere hoffen.

Spirituelles Graffito. Neukölln, Berlin, 2016.
4 Gott hofft
In ähnlicher Weise predigte auch Papst Franziskus in der letzten Woche bei einem Besuch von vielen Strafgefangenen im Vatikan.
Gerade für Häftlinge wies er auf die Hoffnung als eine Quelle der Kraft hin, und auf "die Gewissheit der Gegenwart Gottes und seines Mitleids trotz des Bösen, das wir getan haben. Es gibt keinen Ort unseres Herzens, der nicht von der Liebe Gottes erreicht werden könnte! Wo ein Mensch ist, der etwas falsch gemacht hat, da wird das Erbarmen des Vaters noch gegenwärtiger, um Reue, Vergebung und Versöhnung zu wecken.”3
So können wir also auf Gott hoffen – aber genauso hofft Gott auf uns, sagt der Papst: "wie paradox es auch scheinen mag, es ist genau so: Gott hofft! Seine Barmherzigkeit lässt ihn nicht ruhig.

Er ist wie der Vater im Gleichnis, der immer auf die Rückkehr des Sohnes, der gefehlt hat, hofft (vgl. Lk 15,11-32). Es gibt für Gott weder Rast noch Ruhe, bis er nicht das verlorengegangene Schaf gefunden hat (vgl. Lk 15,5).

Wenn nun Gott hofft, dann kann die Hoffnung niemandem genommen werden, denn sie ist die Kraft, um weiterzugehen; sie ist die Spannung auf die Zukunft hin, um das Leben zu verändern; sie ist ein Ansporn auf das Morgen hin, damit die Liebe, mit der wir trotz allem geliebt werden, zu einem neuen Weg werden kann…

Weil der barmherzige Gott auf uns hofft, ist Veränderung und Befreiung für jeden Menschen möglich.
Und dann können wir den Blick hoffnungsvoll und nicht ängstlich nach vorn richten, anstatt immer nur trübe zurück zu starren.
Der Papst ruft auf: „Niemand von euch soll sich daher in die Vergangenheit einschließen! Gewiss, selbst wenn wir wollten, kann die vergangene Geschichte nicht neu geschrieben werden. Aber die Geschichte, die heute beginnt und auf die Zukunft blickt, ist noch ganz zu schreiben – und zwar mit Gottes Hilfe und in eurer persönlichen Verantwortung. Wenn man von den Fehlern der Vergangenheit lernt, dann kann man ein neues Kapitel des Lebens aufschlagen.

Das wünsche ich uns: in der Hoffnung und im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit ein neues Kapitel unseres Lebens aufschlagen und uns nicht ängstigen lassen von den Ereignissen um uns.

Leben-im-Quadrat-Graffiti. Bonn, 2012.

1   Vgl. zum ganzen historischen Hintergrund: A. Eich, Die römische Kaiserzeit. Die Legionen und das Imperium. München 2014, 86-98.

2   F. Porsch, Viele Stimmen – ein Glaube. Anfänge, Entfaltung und Grundzüge neutestamentlicher Theologie. Leipzig 1988, 109.