Freitag, 27. Januar 2017

Identität und Scham – Gedanken zum Holocaust-Gedenktag

Ich liebe dieses Land.
Mit dem 27. Januar als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Mit dem 08. Mai als Gedenktag des Kriegsendes.
Ich liebe, was dieses Land ausmacht, aber nicht alles, was in seiner Geschichte geschah.
Es gibt Verabscheuungswürdiges und Bewundernswertes, Ekelhaftes und Schönes. 
Wie überall.

Und es gibt eine Kultur, die über beides, die eigenen Licht- und Schattenseiten, nicht schweigt. (Jedenfalls nicht immer.)
Es gibt Selbstkritik als Grundlage einer reflektierten Identität, was manchmal zu moralischer Besserwisserei führt. Aber in diesem Land lebt eine Bereitschaft, sich mit sich selbst und der eigenen Geschichte kritisch auseinanderzusetzen.
Diese Haltung mag individuell sehr verschieden verwirklicht werden. Sie schuf jedoch einen weitreichenden Konsens über gewisse grundlegende Tatsachen in der Geschichte dieses Landes.

Unter Schnee. Wald bei Alt-Buchhorst, 2017.
Es hat lange bis dorthin gedauert, wie in den letzten Jahren erst wieder die Filme über Fritz Bauer und die schleppende Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts gezeigt haben ("Im Labyrinth des Schweigens" und "Der Staat gegen Fritz Bauer"). 

Inwieweit dies auch zu einer Versöhnung mit den Opfern des großflächigen staatlichen Terrors geführt hat, vermag ich nicht zu sagen. Mit der eigenen Geschichte im 20. Jahrhundert und ihren Schrecken jedoch haben die Deutschen einen angemessenen Umgang gefunden. Natürlich schwankt dieser immer zwischen einem "Immer-wieder-alles-grundsätzlich-auf-den-Tisch-packen", was gefühlt oder tatsächlich wie eine "Auschwitz-Keule" (Martin Walser) aussehen kann, und einem ausweichenden "Jetzt-muss-aber-mal-Schluss-sein", das den Wunsch von manch linker Seite als Nationalismus gebrandmarkt wird.
Trotz dieser extremen Pendelschläge gibt es dazwischen eine gewachsene Normalität, sich in Deutschland gesellschaftlich mit Brüchen und Grenzen ebenso wie mit Höhenflügen und Sternstunden auseinander zu setzen. So verläuft ein gangbarer Weg zwischen Hurra-Patriotismus und nationaler Selbstgeißelung.

Um so schwerer wiegt der Kulturbruch, wenn ein demokratisch gewählter Politiker wie Björn Höcke von der thüringischen AfD das offizielle Mahnmal zum Gedenken an die ermordeten Juden Europas als "Denkmal der Schande" bezeichnet.

Zu einer reifen Form der kulturellen Identität gehört, so kann man es in der Biographiearbeit lernen, dass auch dunkle Anteile der eigenen Geschichte in das Gesamtbild von sich selbst integriert werden müssen. Wo die Auseinandersetzung und die Suche nach geordnetem Umgang ausbleibt, "gibt es nur den Fluchtweg in Selbstrechtfertigung, das schädliche Abdrängen der Schuld und der Schuldgefühle unter einer Betonschicht oder den Absturz in Verzweiflung und Selbstanklage."1
Eine solche Betonschicht der Rechtfertigung ist in manchen Kreisen der Neuen Rechten klar erkennbar.
Doch Scham und Selbstbewusstsein schließen einander nicht aus. Das Auseinandersetzen mit der Vergangenheit kann ungleich mehr befreiend wirken als Aggression und Wut. Denn Narben gehören zum Leben dazu.

Doch neben diesen Fragen der deutschen Identität ist dieser nationalistische Ausfall in erster Linie ein Schlag ins Gesicht der Millionen Opfer der deutschen Vernichtung und ihrer Angehörigen.
Ihnen gilt mein Gedenken an diesem Tag.

Bruch im Eis. Peetzsee, Alt-Buchhorst, 2017.

1J. Maureder, Mensch werden – erfüllt leben. Würzburg 2007, 77.