Samstag, 18. Februar 2017

Vollkommen – Das christliche Gottesbild als Aufgabe

Im Evangelium des heutigen Sonntags (Mt 5,38-48) setzt Jesus noch einen drauf: Seine Worte aus der Bergpredigt sind der Höhepunkt! Der ethische Maximalanspruch des Christentums! Das Alleinstellungsmerkmal!

Lass dich von deinem Aggressor noch einmal schlagen! Gib nicht nur das juristisch Geforderte, sondern sogar noch mehr! Begleite freiwillig den, der dich unter Zwang zum Mitgehen fordert! Und schließlich: Halte den, der dir Böses will, nicht nur aus, sondern schließ ihn in dein Herz!

Für die einen sind diese Imperative völlig verstörend und abseitig, für die anderen der entscheidende Grund, sich der christlichen Botschaft zuzuwenden.

Jesu Forderungen sind, das ist ganz klar festzuhalten, eine moralische Überforderung für den Menschen. Es handelt sich nicht um intuitiv einsichtige Gebote, wie das Gebot, nicht zu töten. Aus Respekt vor dem Leben kein Leben auszulöschen, das leuchtet ein.
Aber die Aussagen im heutigen Evangelium widersprechen der Alltagsrationalität radikal, führen sie doch, konsequent weitergedacht, in die Selbstaufgabe. Kann das gefordert werden?

Kontraintuitiv. Westhafenkanal, Moabit, Berlin 2017.
Ich möchte mich dieser Situation von einer strikt theologischen Seite nähern.
Denn wenn Jesus dieses Mehrgeben, Aushalten, Mitgehen und die Feindesliebe fordert, dann hat er damit nicht nur ein von den Christen gewünschtes Verhalten im Blick.

Vielmehr finden wir hier eine Charakterisierung Gottes selbst.
Denn Gott tut in seiner Geschichte mit dem Volk Israel genau das, was hier verlangt wird.

Wenn wir in diese Geschichte hineinschauen, können wir an verschiedenen Stellen sehen, dass Gott der Dranbleibende, der Aushaltende und Geduldige ist. Dass er bei allem, was seine Auserwählten ihm antun, sie nur noch mehr liebt:
Er hält es aus, dass Sara ihn auslacht, als er dem greisen Abraham einen Sohn ankündigt (vgl. Gen 18,12). Auch ihrem Enkel, dem betrügerischen Jakob, der sich als Zweitgeborener Erbe und Erstgeborenrecht ergaunert (Gen 25,27ff; 27), bleibt er treu, so weit, dass er ihm beim nächtlichen Kampf einen neuen Namen gibt: Israel – Gottesstreiter (Gen 32,29). Dass dieser Name als Name des Volkes weitergegeben wird, fordert also zwei streitfähige Partner und darum einen Gott, der sein Volk nicht im Stich lässt, sondern mit ihm weitergehen wird - und sei es im Streit.

Denn auch beim Zug durch die Wüste lässt er das Volk nicht im Stich, etwa wenn das Murren überhand nimmt (vgl. Ex 16.17), oder wenn sich das Volk einen sichtbaren Gott aus Gold wünscht und deshalb um das selbstgemachte Goldene Kalb tanzt (vgl. Ex 32).

Im verheißenen Land angekommen, zeigt das Buch der Richter ähnliches. Eine wiederkehrende Formel ist: "Die Israeliten taten, was in den Augen des HERRN böse ist, und dienten den Baalen. Sie verließen den HERRN, den Gott ihrer Väter, der sie aus Ägypten herausgeführt hatte, und liefen anderen Göttern nach" (Ri 2,11f. vgl. 3,7; 3,12; 4,1 u.ö.) Daraufhin entbrennt regelmäßig Gottes Zorn, der ihn aber nicht davon abhält, sogleich für Rettung zu sorgen: "Der HERR aber setzte Richter ein und die retteten sie" (Ri 2,16). Nur hielt dies nicht an: "Sobald aber der Richter gestorben war, wurden sie rückfällig und trieben es noch schlimmer als ihre Väter, liefen anderen Göttern nach, dienten ihnen und warfen sich vor ihnen nieder. Sie ließen nicht ab von ihrem bösen Treiben und von ihrem störrischen Verhalten." (Ri 2,19)

Ich zitiere das nicht darum so ausführlich, weil ich glaube, dass es historisch immer genau so war wie dort beschrieben, sondern weil die Tradierung solcher Texte zeigt, wie wichtig es Autoren und Tradenten war, darauf hinzuweisen, dass Gott trotz der regelmäßigen Abwendung von ihm, trotz der Ohrfeigen, als die er das Niederwerfen vor den selbstgemachten Göttern empfinden musste, immer wieder hingeht und sich den nächsten Schlag holt: "...wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin." (Mt 5,39)
Das war für weite Strecken der alttestamentlichen Überlieferung das entscheidende Moment des jüdischen Gottesbildes: dass der Gott der Väter ihnen wie närrisch hinterhergeht und sich aus lauter Liebe eine Enttäuschung nach der anderen einholt.
Auch die Bücher der Propheten bestehen fast nur aus den Hinweisen, dies doch endlich zu bemerken und nicht noch einmal zuzuschlagen.

Meckern kann man immer.
Spritzer an der Wand. Alt-Treptow, Berlin 2015.
Schließlich das Leben und Sterben Jesu selbst: Trotz der Anfeindungen seitens des Establishments geht er weiter und verkündet seine Botschaft von Gottes Reich der Gerechtigkeit und Liebe.
Die Passion als eine der ältesten Überlieferungen der Jesustradition zeigt Jesus als den Prototyp dessen, was später als ethische Maximen in der Bergpredigt versammelt wird.
Vor Gericht gestellt, schraubt er nicht zurück oder relativiert oder drückt sich anders aus, sondern er gibt neben dem Hemd auch noch den Mantel: Als "König der Juden" hatte Jesus sich nach allem, was wir wissen, zuvor nicht bezeichnet, als aber Pilatus ihn fragt, ob er es sei, bestätigt er ihn. (vgl. Mt 27,11)
Am Kreuz schließlich zeigt sich Jesus als der, der tut, was er sagt: "Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen". (Mt 5,44). Nach der Kreuzigung betet für seine Mörder: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" (Lk 23,34)

Ich wiederhole noch einmal:
Die moralischen Forderungen, als welche sich die neuen Gebote Jesu zunächst darstellen, sind also in erster Linie Aussagen über das Verhalten Gottes gegenüber dem Volk Israel und über das Verhalten Jesu selbst.
Darum heißt es am Schluss der Lesung auch: "Ihr sollt ... vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist." (v48)

Die Vollkommenheit, von der die Rede ist, ist nachzulesen in der ganzen biblischen Überlieferung – als liebende Dranbleiben Gottes an dem Volk, das ihn immer wieder verlässt.
Aus diesem Grund findet sich das Gebot der Feindesliebe mit all den Vorstufen des Aushaltens und Mitgehens gerade im Christentum.

Vor diesem Hintergrund ist der Anspruch dieser Gebote an uns Christen zwar weiterhin ungeheuer, aber sie fußen eben auf den Erfahrungen, die das Volk Israel mit Gott und seiner Liebe gemacht hat.

Nicht zu töten, kann man eigentlich von jedem erwarten, das ist nichts besonderes – "Tun das nicht auch die Heiden?" (Mt 5,47)
Aber wer sagt, dass er an einen Gott glaubt, der sich aus Liebe zu den Menschen bis zum Kreuz erniedrigt hat, der immerzu dranbleibt an uns in unserem Versagen, der unseren Zwang aushält und der unsere Händel mit ihm verzeiht, der immer wieder einsteckt, wenn wir ihn vergessen, verdrängen und verleugnen – für jemanden, der von Gott solches glaubt, für den muss Jesu Gebot der Feindesliebe wenigstens ein Ansporn sein. 

Ansporn. Pflanzen pflanzen. Grünheide 2016.