Dienstag, 7. März 2017

"Brüder, die auf verschiedenen Wegen gehen" Jehuda Bacon und der jüdisch-christliche Dialog

Die derzeit stattfindende „Woche der Brüderlichkeit“, die die Beziehung zwischen Juden und Christen stärken und vertiefen soll, rutscht bei mir meistens unter die Wahrnehmungsgrenze.
Dabei ist der Dialog zwischen Juden und Christen genauso nötig wie die theologische und lebenspraktische Auseinandersetzung mit dem Islam.

Deshalb sei an dieser Stelle ein Zeuge vorgestellt.
Er bietet eine weniger von theologischen und aktuellen religionsdialogischen Diskursen aufgeladene Perspektive, sondern schöpft aus seiner Lebenserfahrung und persönlichen religiösen Reflexionen, die von dieser Erfahrung gesättigt und von jüdisch-rabbinischem Geist gefüllt sind.

Es handelt sich um Jehuda Bacon, israelischer Künstler, geboren 1929 in Mährisch-Ostrau, jüdischer Überlebender von Auschwitz, der in einem vor kurzem erschienenen Gesprächsbuch von Manfred Lütz viele Gedanken zu seinem Leben, zum Menschsein, zur Frage von Schuld und Versöhnung, aber auch zu seiner religiösen Perspektive auf Auschwitz und das Leiden des Volkes Israel preisgibt.1

Leere hält Raum frei.
Urbanhafen, Kreuzberg, Berlin 2013.
In allem zeigt er sich, auch durch die Fragen von Manfred Lütz geführt, als eine tiefreligiöse und mystisch empfindende Person, die in ihrer eigenen religiösen Tradition verwurzelt ist und dabei einen sehr offenen Blick auf andere Glaubensüberzeugungen hat.

Gott ist, so betont Bacon mehrfach, dem menschlichen Begreifen transzendent entzogen, „man hat ihn niemals in der Tasche. Was man in der Tasche hat, ist die eigene Dummheit, aber nicht Gott, das Ewig-Transzendente.2

Aus dieser bescheiden-souveränen Einsicht folgt für ihn ein sehr weites Verständnis von religiöser Erfahrung bzw. Gotteserfahrung. Das Aufblitzen eines anderen und tieferen Sinnes in einer alltäglichen, vielleicht schon mehrfach erlebten Situation öffnet den Blick auf die Wirklichkeit Gottes – ganz so, wie die Liebe einen Menschen plötzlich in völlig neuem Licht sehen lässt: „Liebe ist ein Wunder, das sich plötzlich enthüllt, man kann es nicht wollen, es ist da oder nicht.3

Gerade der Blick des Künstlers Bacon eröffnet eine religiöse Dimension in künstlerischen Zusammenhängen – „weil Kunst grundsätzlich eigentlich die Türen öffnet für ein Erlebnis im höchsten Sinn, eine transzendentale Erfahrung, meistens ein religiöses Erlebnis. Selbst wenn sie [einige Künstler] sagen, ich hab‘ keine Religion, dann ist doch das, was sie schaffen, für mich ein Zeichen von diesem Erlebnis.4 Besonders bei Rembrandt, aber auch bei Van Gogh ebenso wie bei Celan oder in Bachs Matthäuspassion erkennt Bacon diese Tiefe.

Seinen eigenen Schülern an der Jerusalemer Bezalel-Akademie hat er auch aus diesem Grunde die Möglichkeit geben wollen, ihre eigenen Visionen und Talente so zu entwickeln, dass sie nicht in die Schemata ihrer Lehrer rutschen, sondern nur das jeweils Passende für sich herausgreifen und dann eigenständig und individuell Erfahrungen machen müssen, um „dasselbe von neuem und vielleicht viel tiefer und anders zu erkennen5 und dann „das Einmalige, das jeder Mensch hat, zum Ausdruck zu bringen.6

Diese innere Weite zeigt sich auch in der Versöhntheit mit seiner eigenen Lebensgeschichte und den Menschen, die an seinem Leid schuld waren: „ich wollte nicht, dass es den Nazis gelingt, aus mir einen kleinen Nazi zu machen, einen Menschen, der voller Hass ist.7 Augenscheinlich ist ihm dies gelungen. Denn nach seinen moralisch differenzierenden Aussagen beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt und der Zusammenarbeit mit deutschen Autoren und Künstlern wird sein Werk nun zu großen Teilen in Würzburg verwaltet.
Doch nicht nur sein Blick auf die Deutschen ist versöhnt und zugleich differenziert. Auch auf religiöser Ebene gelingt Bacon dieser Blick voll Frieden und Anerkennung der Andersheit der Anderen.

Aus religionsphilosophischer Sicht finde ich persönlich seine Gedanken zu Gott äußerst spannend. Sie lassen die schon genannte Transzendenz Gottes groß sein und weiten sie hin bis auf den Menschen, so dass Bacon zu der schönen Formulierung gelangt:
Voller Möglichkeiten.
Kletterwand, Christian-Schreiber-Haus,
Grünheide 2016.
Das Wissen um Gott, das heißt, das Wissen darum, dass man auch anders leben kann, dass man anders sehen, anders empfinden und als Mensch anders lieben kann, das bringt das Glück. Wir versuchen das ja täglich, versagen aber leider meistens, doch es bleibt eine Möglichkeit.“8

Bei all unseren Grenzen also sieht Bacon, dass wir Menschen (fastenzeitlich gesprochen) immer die Möglichkeit zur Umkehr und Wandlung, aber auch zum Mehr und Ganz-anders haben – und das gerade dies schon eine Spur Gottes in der Welt ist, die glücklich machen kann.
Menschliches Anderssein als befreiendes Wirken Gottes, als Möglichkeit, neu und anders zu leben.

Ähnliches gilt nach Bacon für das Christentum und seine Beziehung zum Judentum. Es gibt die Vielfalt der Perspektiven, aber den einen Gott:

Das eine ist, Jesus mit den Augen eines Christen gesehen, das andere ist, Jesus mit den Augen eines Juden gesehen. Für mich ist klar, wir Juden und wir Christen, wir sind eben so geboren. Aber von wem sind wir geboren? Vom selben Gott! Die Probleme gibt es nur, weil wir alle Menschen sind.“9

Das mag theologisch nicht vollends befriedigen oder auf dem aktuellen Stand der religionsdialogischen Debatte sein. Doch es ist das Lebenszeugnis eines Menschen, der die Versöhnung zwischen Christen und Juden authentisch lebt. Und der dies folgerichtig auch von den Christen erwartet.
Nach dem Krieg war ein leuchtendes Beispiel für ihn Přemysl Pitter, in dessen Kinderheimen er zunächst unterkam. Dieser christliche Pädagoge sah in jedem der ihm anvertrauten Kinder den Abglanz Gottes, so dass er unterschiedslos allen half – ein interreligiöses Glaubenszeugnis, das Bacon unmittelbar ansprach und augenscheinlich auf ihn abfärbte.

Sicher waren es auch diese Erlebnisse mit Christen, die ihn zu der Erkenntnis kommen lassen: „Für mich sind Christen und Juden wirklich Brüder, die auf verschiedenen Wegen gehen. Und wenn man tiefer liest, dann spürt man den engen Zusammenhang auch und man versteht, dass sie sich so nahe sind, dass sie sich nicht einmal trennen können. Wir haben so viel Gemeinsames und darauf baue ich.10

Licht aus dem geöffneten Himmel. Kapelle des Christian-Schreiber-Hauses. Grünheide 2016.

1   J. Bacon, M. Lütz, „Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden.“ Leben nach Auschwitz. 2. Aufl. Gütersloh 2016.
2   Ebd., 97.
3   Ebd., 172.
4   Ebd., 152.
5   Ebd., 156.
6   Ebd., 158.
7   Ebd., 134.
8   Ebd., 177.
9   Ebd., 171.
10   Ebd., 175.