Samstag, 29. April 2017

Trainier dein träges Auge! – "Fuocoammare" und Auferstehungsglaube

Es ist ein langsam wachsendes Verstehen dessen, was dieser auf der Berlinale 2016 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnete Dokumentarfilm möchte. In kommentarlosen Einstellungen schneidet "Fuocoamare" (deutscher Titel "Seefeuer") von Gianfranco Rosi Szenen des alltäglichen Lebens auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa gegeneinander. Einerseits sind da die eingesessenen Einwohner, porträtiert werden zumeist Fischer, aber auch Rentner, ein Radiomoderator und ein Arzt – auf der anderen Seite die Flüchtlinge, die über das Meer kommen und von den Patrouillenbooten aufgefischt werden. 
Zunächst sind es harmlose und fast langweilige Szenen, die das Drama der Flüchtenden und ihrer Retter zeigen. Passend dazu die braven Freizeitbeschäftigungen des immer wieder dargestellten einheimischen Samuele: mit einem Freund eine Steinschleuder bauen, Steine auf Pflanzen schießen, mit dem Vater aufs Meer fahren.

Schatten des Weltgeschehens.
Rixdorf, Berlin, 2017.
Erst nach und nach fallen die Parallelen zwischen dem Leben der Einheimischen und dem der Flüchtlinge auf – und natürlich die beunruhigenden Kontraste. Im Radion laufen auf telefonischen Wunsch gespielte Liebeslieder zwischen den Meldungen über die umgekommenen Flüchtlinge. Dazu gehört auch "Fuocoammare" über das Feuer auf See während des längt vergangenen Zweiten Weltkrieges. Samuele wiederum soll nach einer mit Übergeben verbrachten Ausfahrt seinen Magen trainieren, um später als Fischer dem Wellengang standzuhalten. Daneben werden die dehydrierten Flüchtlinge gezeigt, die aus den unteren Etagen der Boote gezogen werden.

Der Arzt der Insel seinerseits ist Allround-Mediziner und anfangs dabei zu sehen, wie er die noch ungeborenen Zwillinge einer Flüchtlingsfrau mit dem Ultraschall-Gerät untersucht – die werdenden Leben mit dem Gerät korrekt zu erkennen, kostet ihn einige Mühe. Später schildert er seine grauenhaften Aufgaben beim Obduzieren der auf Überfahrt getöteten Flüchtlinge – die Alpträume angesichts des genommenen Lebens beschäftigen ihn sichtlich.
Ein paar Filmminuten danach wierderum untersucht er das linke Auge des zwölfjährigen Samuele. Er bezeichnet es als ein träges Auge, das trainiert werden muss. Um dies zu erreichen, klebt er das gesunde Auge ab, das andere bekommt Unterstützung durch eine Brille.

Die Aussage über das Training für das träge Auge scheint mir die Intention des Films auf den Punkt zu bringen: Um die Gänze der Wirklichkeit wahrzunehmen, müssen wir die Trägheit unserer Wahrnehmung überwinden, damit wir das Unheil der Welt wenigstens nicht fortwährend aus dem mit unseren alltäglichen Sorgen so überfrachteten Leben ausblenden.
Verschiedene Wirklichkeitsebenen stehen oftmals mehr oder weniger verbunden nebeneinander.

Die Inselbewohner auf Lampedusa sind im Film nur das exemplarische Anschauungspersonal für diese zentrale Aussage, da ihr Leben geographisch so eng mit dem der Flüchtenden verknüpft ist. Doch auch unser aller Leben steht in vielfältiger engster Verbindung mit den menschlichen Tragödien unserer Zeit und ihren politischen Wurzeln, ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht.

Noch etwas tiefer geht die Aussage des Films, wenn wir ihn auf die biblischen Auferstehungsberichte beziehen. Wie bei den ersten Jüngern ist auch unsere Wahrnehmung oft auf das Gewohnte, den Alltag, den bekannten Nahbereich und das Erwartete gerichtet. Unser religiöses Auge, das auch die andere Seite der Welt wahrnimmt, mit dem wir Tod und Rettung, Heil und Unheil erkennen können, müssen wir immer wieder trainieren.

Wenn wir das Leben nicht mehr als Gottesgeschenk und die Lebensgefahr unserer Mitmenschen nicht mehr als Anspruch an uns wahrnehmen, dann wird uns wohl auch das Leben des Auferstandenen nichts sagen.
Glaube beschränkt das Leben nicht auf eine eindimensionale Ebene, sondern fordert unsere Trägheit heraus. Leiden und Auferstehung Jesu können wir auch in Leiden und Rettung unserer Mitmenschen erkennen, wenn wir unsere trägen Augen trainieren.

Feuer ohne Meer. Grünheide, 2017.