Mittwoch, 31. Mai 2017

Eine aber erinnert sich – Vom Geisteswehen in "Saint Mazie"

Vor Pfingsten ruft die Kirche nach dem Heiligen Geist. Der aber weht bekanntlich nicht nur in den Mauern der Kirche und zeigt sich bevorzugt dort, wo Menschen einander zugewandt sind und sich besonders gegenüber den Bedürftigen öffnen.

Daran musste ich denken, als ich vor kurzem den neuen Roman von Jamie Attenberg, "Saint Mazie", las. Attenberg greift die Lebensgeschichte der New Yorkerin Mazie Phillips-Gordon auf und erzählt, aus verschiedenen Sichtweisen wie eine Reportage zusammengesetzt, deren Leben vor allem in den 1920er Jahren. Hauptsächliche Erzählperspektive ist das fiktive Tagebuch, aber es kommt neben sich erinnernden Bekannten auch die historische echte Mazie in nachgelassenen autobiographischen Fragmenten zu Wort.
Auf diese Weise entspannt sich nach und nach ein Leben, dass in seinen Suchbewegungen und dem Einsatz für die obdachlosen Opfer der Wirtschaftskrise, aber auch in den spirituellen Andockversuchen bisweilen an Simone Weil oder Dorothy Day erinnert.

Einfahrt zum Hof. Rixdorf, Berlin, 2016.
Denn Mazie ist ein Freigeist; sie zieht schon als Jugendliche am liebsten durch die Straßen und genießt ihre Freiheit. Sehr undamenhaft raucht und trinkt sie, sucht sich ab und zu einen Mann, bleibt aber zeitlebens unverheiratet. Gleich zu Beginn lässt die Autorin sie programmatisch sagen:
"Noch nie in meinem Leben habe ich von meinem Hochzeitstag geträumt, kein weißes Kleid, kein gottverdammter Diamantring. Ich habe immer nur von Freiheit geträumt. Meine Liebe gilt den Straßen dieser Stadt."1

Dass das nur zur Hälfte stimmt, wird im Verlauf des Romans klar, denn trotz ihrer Abgebrühtheit sehnt sich Mazie nach einer bleibenden Liebe. Die aber ist für die selbstbewusste und kritische Frau, die sie ist, gerade zu ihrer Zeit schwer zu finden. Trotzdem ist sie nicht Herrin über ihre Lebensumstände, sondern lebt mit ihren beiden Schwestern Jeanie und Rosie und Rosies Mann Louis zusammen.
Der ist ein sympathischer, aber eher undurchsichtiger Geschäftemacher und besitzt unter anderem ein Kino, an dessen Kasse Rosie ihre Schwester zur Unterstützung im Familienbetrieb unterbingt.

Mazies Protest spricht Bände:
"Das ist eine Zelle, und du weißt es. Du steckst mich ins Gefängnis. ... Ich werde alles verpassen. Die Welt wird an mir vorüberziehen. Ich werde alt und sterbe dann in dieser Zelle."2
Tatsächlich wird diese Kasse über Jahrzehnte ihr Ort. Während die jüngere Jeanie sich irgendwann als Tänzerin aus dem Staub macht, bleibt Mazie solidarisch mit Rosie und verantwortungsbewusst in ihrem kleinen Gefängnis – und steht doch mitten im Leben.

Denn dort trifft sie nicht nur den Querschnitt der Bevölkerung, wird angebettelt und flirtet ironisch mit dem lokalen Polizisten, sondern lernt auch eine Ordensschwester kennen, die zwar Teresa heißt, wegen der Menge der Teresas in ihrem Orden aber nur Te genannt wird.
Schwester Te erwartet nicht nur Mazies Hilfe für die Armen, sondern versucht auch auf vergleichsweise sanfte Art, sie zu bekehren. Unter anderem erzählt sie ihr von den Heiligen.
Das inspiriert Mazie zur etwas freieren Assoziation:
"Ich will für alles eine Heilige haben. Die Heilige des Freien Geistes. Die Heilige der Tanzenden Narren. Die Heilige des Meeres. Die Heilige des Himmels. Die Heilige des Mondes. Die Heilige der Liebenden. Ich will mich beschützt und sicher fühlen, aber nur aus der Ferne. Ich denke gern daran, dass die ganzen Heiligen auf mich schauen. Sie sind oben, ich bin unten.
Ich weiß, es gibt sie nicht. Ich bin nicht dumm. Es ist bloß so angenehm etwas zum Träumen zu haben, hier in meiner Zelle."3
Diese innere Distanz wird ihr lange erhalten bleiben. Doch findet sie im christlichen Zeugnis der Ordensfrau auch einen Halt, der tiefer geht als bloße Bekanntschaft.

Nach und nach beginnt sie, sich einzusetzen für die gestrandeten Existenzen, die vor allem im Gefolge der Wirtschaftskrise auf der Straße gelandet sind. Geld und Lebensmittel und Kleidung verteilt sie, ruft im Notfall einen Krankenwagen und findet unter den Männern auf der Straße schließlich eine Art zweiter Familie.
Müllkulisse. Weserstraße, Neukölln, Berlin, 2016.
Nach dem Tod von Louis resümiert Mazie abends dankbar die Kondolenzbesuche an der Kinokasse: "Diese Leute sind heute morgen aufgestanden und haben sich vorgenommen, menschliche Wesen zu sein. Nicht jeder weiß, wie das geht. Kein Geschmeiß, meine Leute. Echte menschliche Wesen."
Der religiöse Trost von Schwester Te dagegen sagte ihr nichts: "Ich brauchte aber keine Heiligen, jedenfalls heute nicht. Ich hatte alle aus der Park Row bei mir."4

Innerlich wächst sie selbst weiter in ihrem selbstlosen Engagement für die Menschen von der Straße, so sehr, dass einer, der später ihr Tagebuch auf der Straße findet, beindruckt zu Protokoll gibt: "Ich wusste nichts über sie, nur dass sie wie eine Heilige klang, jedenfalls eher als alles, was ich sonst so kannte."5
Dass Mazie am Allerheiligentag Geburtstag hat, ist da nur das i-Tüpfelchen an vielerlei kleinen Hinweisen, die die Autorin zusammenwebt zum Bild einer Heiligen außerhalb der Kirche, die als glaubenslos erzogene Jüdin den christlichen Geist atmet wie nur wenige Christen. (Nur am Rande wird erwähnt, dass sie in den Dreißigern wohl beginnt, regelmäßig die Messe zu besuchen.)

Zwar steht Mazie immer in der doppelten Verantwortung, sich zunehmend um ihre Schwester kümmern zu müssen und zugleich den Kinobetrieb aufrecht zu erhalten, doch wo sie nur kann, geht sie zusätzlich noch auf die Straßen und ist bei den Armen.
Von Rosies Bedürfnissen lässt sie sich zwar wieder und wieder in Beschlag nehmen, kann ihr aber auf das Jammern über verschiedene Nachbarn nur erwidern: "Wir sind nichts Besseres."6

Diese zunehmende mentale Nivellierung des eigenen sozialen Standes zugunsten derer, denen es nicht so gut geht wie ihr, ist eine beeindruckende innere Entwicklungsgeschichte.
Denn trotzdem der Roman über weite Teile nur recht durchschnittlich aus den verschiedenen Blickwinkeln zusammengefügt ist und erst langsam an Fahrt gewinnt, überzeugt er doch in der Darstellung der inneren Spannung zwischen der eigenen Freiheitssehnsucht und dem gleichzeitigen Hineingehen in die Enge der Arbeitswelt, zwischen dem Einsatz für die Familie und dem für die Bedürftigen, zwischen der Einsamkeit und der nur punktuell erfahrenen Liebe.
Diese Liebessehnsucht führt sie aber nicht in Resignation und Zynismus, sondern hinzu den Menschen.

Gegen Ende zitiert Attenberg einen ausführlichen Abschnitt aus dem originalen Lebenszeugnis von Mazie Phillips, das es in sich hat:
"Was mich umbringt an diesen Stadtstreichern ist, dass sie sterben, sie sind fort, und dann ist es, als hätte es sie nie gegeben auf Gottes grüner Erde. Früher hat sie jemand gekannt. Eine Mutter, ein Vater, ein Arzt, ein Kamerad, irgendwer hat sie beim Namen gekannt. Inzwischen kennen sie nur noch einander, und dann, nach und nach, sind sie vergessen. Schneller wahrscheinlich, als ihnen lieb wäre. Jeder will doch, dass man sich an ihn erinnert, oder? Jeder will, dass ein kleines Stück von ihm bleibt. Tja, ich erinnere mich an sie. Ich erinnere mich an jeden. Fast überall waren sie ein Niemand, aber für mich waren sie wer. Ich kannte sie beim Namen. Alle beim Namen. Ich kannte sie."7

Das ist sprachlich ganz nah an der Bibel (vgl. Jes 43,1; Jes 49,15) und fast schon eine Gottesperspektive, die Mazie da aufreißt. Die Vergessenen der Welt (bzw. von New York), an Mazies Herzen sind sie geborgen, auch wenn die ihr Leben lang in einer Zelle sitzen muss.

Denn darum geht es auch Christen, wenn sie um den Heiligen Geist beten – dass Gott sie nicht vergessen möge. Und wir erhalten diesen Geist, um einander nicht ins Vergessen fallen zu lassen. Auch dies ist ein Werk der Barmherzigkeit, das wir im Geist Gottes tun können.

Ecke an der ul. Panska, Warschau, 2015.

1   J. Attenberg, Saint Mazie. Frankfurt a.M. 2016, 37f.

2   Ebd., 50.

3   Ebd., 195.

4   Ebd., 230.

5   Ebd., 249.

6   Ebd., 303.


7   Ebd., 343.