Donnerstag, 4. Mai 2017

"Fern von Rom und nah beim Kreuz" - "Evangelio" von Feridun Zaimoglu

Die Ausgangslage dieses aktuellen "Luther-Romans"1 ist vielversprechend – der katholische Landsknecht Burkhard muss den "Ketzer" Martin Luther im Auftrag des Kurfürsten vor allen möglichen Feinden schützen. Im Wechsel von Ich-Erzählung dieses Beschützers und Briefen Luthers an diverse Gefolgsleute tritt das Jahr 1521/22 auf der Wartburg in das wechselnde Licht zweier gegensätzlicher Perspektiven.

Aufgang in die Höhen.
Melanchthonhaus, Wittenberg, 2015.
Und dieses Licht ist, um es klar zu sagen, meistenteils erzählerisch äußerst anstrengend. Denn der Autor Feridun Zaimoglu entwirft mithilfe der äußerst bildreich-blumigen und deftigen Sprache seiner Protagonisten eher ein Sittenbild der damaligen Zeit, als dass er eine Geschichte erzählt. Das ist expressiv und oft genug äußerst lustig, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen: über mindestens drei Viertel des Buches geschieht eigentlich nichts, was die Handlung voranbringt.
Es gibt einige exemplarische Auseinandersetzungen über den Teufel und seine Machenschaften, exzessiv wird der Aberglaube der einfachen Leute ausgebreitet, dann reitet man mal aus zur Jagd, ein andermal verrät Luther durch seine Bibelfestigeit fast seine Tarnung als Junker, ständig sind Knechte rauhbeinig und Mägde abergläubisch.
Aber es passiert eben nichts Entscheidendes. Die Bibelübersetzung wird mehrfach angedeutet. Das mag zwar den tatsächlichen Gegebenheiten während Luthers Wartezeit nahekommen, es ermüdet aber beim Lesen ungeheuer.
Auch bei den Szenen, in denen sich dann doch mal etwas ereignet, wie beim Wirtshausbesuch, zeigt sich wenig von beschreibender Kraft, vielmehr glänzt fast alles in den inneren Monologen des Landsknechts, die zwar bildhaft sind, aber eben nicht helfen, ein Bild der Szenerie vor dem geistigen Auge entstehen zu lassen.

Aber, und das ist nun eindeutig die große Stärke des Buches, der Charakter Luthers wird breit aufgefächert – wenngleich ihn das nicht in besonders freundlichem Licht dastehen lässt. Denn er steht da als einer, der zunächst einmal ganz in mittelalterlichem Hexenhass und Teufelsängsten steht: "Weiber, die Wetter machen, verbrennen muss man sie als Teufelshuren, denn sie melken Milch auch aus dem Axtgriff, aus der Schürze, aus dem Holz, Heilung und Bannung durch Feuer ist rechtens."2 Dieses Wüten gegen alle, die ihm entgegenstehen, durchzieht das ganze Buch und Luthers Flüche gegen jedermann sind dabei wirklich eindrucksvoll: "Papst, das ist der Gaunername der Diebsbuben, Papst ist Jud und Türck an Tücke überlegen, die Kirche frisst, der Teufel reibt sich den vollen Magen. ... Der Papst ist dem Teufel angelobt und angetraut."3

Aus vielen grausligen Schilderungen (wie zum Beispiel eine Hinrichtung und das Gieren der Umstehenden nach Teilen des Leichnams) und angesichts der teufelsgläubig-brutalen Denkungsart lässt sich jedoch nur spätmittelalterliches Dunkel erahnen (die Welt als apokalyptische "Knochenmühle") – nicht aber der Beginn des Neuen: der Aufzug neuer innerlicher Frömmigkeit, nicht der aufklärerisch-gelehrte Humanismus eines Erasmus, nicht die Jesusfreundschaft einer Teresa von Avila oder die Liebesmytik eines Ignatius von Loyola, die Luthers Zeitgenossen waren. Zaimoglus Roman lässt uns weitestgehend nur die Verwesung der Religion riechen, von der sein Luther sich nur graduell zu unterscheiden scheint. 
Das ist gruselig, wenn Luther über Juden und Muslime herzieht oder geht ins Absurde, etwa wenn seine teufelsgläubige Strenge aufs Korn genommen wird, wenn er einen Bauern verhört und sich der Landsknecht seinen Teil denkt: "Er ward verworfen von Kaiser und hohen Pfaffen, er ist versperrt und verschlossen auf der Warte, doch geht er der Rotte voran, als müsste er jedem Weibe sieben Teufel austreiben."4

Doch bei aller Schwärze und Körpersprachlichkeit wird doch Luthers Intention einer christlichen Erneuerung immer wieder klar herausgestellt. Luthers Anhänger argumentieren im Roman: "Er betet keine Gebeine an, keine Sackbündel in Kleidern, kein bemaltes Holz, keine bemalte Wand. Im Anfang war das Wort und Luther spricht es nach."5
Dagegen fragt sich der Luther schützende Katholik: "Das Allerheiligste ist das Allerheimlichste. Frevelt er, wenn er Gott übersetzt?"6 Solche kurzen pointierten Sentenzen scheinen mir die zeitgenössischen theologischen Fragen in ihrer volkstümlichen Form zu treffen. Hier leuchtet das Sittenpanorama des Luther-Romans als gut konturiertes religiöses Porträt seiner Zeit.
Auch andere theologisch breitgetretene Meinungen fasst der Autor in ihrer Essenz kurz und präzis, so etwa, wenn Reformator und Landsknecht sich geißelnde Wandermönche beurteilen:
"'Sie fetzen sich umsonst. Keiner kann durch Wund und Striemen Gottes Gnad erpressen.' - 'Der Heiland hat's vermocht.' - 'Das hat er', sagt er leis, 'weil Vater unser ihn hat geliebt.''"7
Kurz und eindrücklich ist geklärt: Liebe erlöst, nicht Leiden.
Blick ins Licht. Kapelle nebenan.
Wittenberg, 2015.
Der Landsknecht Burkhard erscheint in solchen Gesprächen reflektiert wie keiner außer Luther selbst. Seine inneren Fragen und wundersamen Tiefsinnigkeiten oder kritischen Einwürfe wirken zwar nicht immer realistisch und seinem wahrscheinlichen Bildungsstand angemessen, aber durch die Dialoge bekommt der Leser einen Eindruck von den religiösen Grenzziehungen.

Differenziert wird ausgebreitet, dass auch der Katholik nicht kritiklos jede alte Frömmigkeit oder den von der hierarchischen Kirche vor Ort unterstützten Aberglauben gutheißen musste und Raum für kritisches Nachfragen blieb. Dass aber andererseits auch Luther nicht notwendig in allem irrte, nur weil die Kirche seiner Zeit anders agierte: "Dass mich die Römlinge verketzern, macht mich nicht zum Götzenholz."8

Auf diese Weise nimmt Zaimoglu die ökumenischen Annäherungen späterer Jahrhunderte erzählerisch vorweg, was verstärkt wird durch die fiktive Rettung Luthers durch den katholischen Burkhard in Wittenberg, als er ihn ausgerechnet vor dem Anschlag eines der reformatorischen Bilderstürmer bewahrt. 

Diese inneren Auseinandersetzungen der Reformatoren prägen den handlungsstärkeren Schlussteil des Buches, wenn sich zeigt, wie unbeugsam dieser Luther auch gegen die eigenen Mitstreiter war – und vielleicht sein musste, um so wirkmächtig zu werden, wie er nun einmal war. Die vielen echten oder imaginierten Feinde, über die er herzieht und auch die Gründe für seine mannigfachen Abneigungen haben es ihm sicher nicht immer leichter gemacht, seine Botschaft vom durch Glauben gerecht machenden Gott zu verkünden – sei es seine Wut auf die dummen Bauern, die er mit Gewalt züchtigen will, sei es die gehasste Reliquiensammlung des ihn beschützenden Kurfürsten oder sei es der jüdische Arzt, dem er Pfuscherei unterstellt und die Heilsmöglichkeit abspricht.

Der Roman zeigt also einen überwiegend wütenden und nur selten klarsichtigen Luther. Ob ihm dies gerecht wird, mögen andere entscheiden, seine (mir bekannten) Briefe und Traktate jedenfalls lassen ahnen, zu welchen Ausbrüchen er fähig war. Wohltuend an Zaimoglus Buch ist, dass es keine lutherische Heiligenbiographie geworden ist, auch wenn des Landknecht (und der Autor) augenscheinlich eine Reihe überzeugender Punkte in Luthers neuer Verkündigung Christi finden.

Und in alle Leseanstrengung hinein fallen immer wieder einzelne Leitsätze, die es bei aller Beschwernis doch zu einer anregenden und weiterführenden Lektüre machen:
"Eine versinkende Welt schauen wir, die wir fern von Rom und nah beim Kreuz sind."9

Bespritzt, aber nutzbar. Fenster auf dem Marktplatz. Wittenberg, 2015.

1   F. Zaimoglu, Evangelio. Ein Luther-Roman. Köln 2017.
2   Ebd., 46.
3   Ebd., 155.
4   Ebd., 192.
5   Ebd., 114.
6   Ebd., 11.
7   Ebd., 152.
8   Ebd., 45.
9   Ebd., 267.