Samstag, 28. Oktober 2017

Hütte – Lichtschein – Goldgrund. Von Gottes- und Nächstenliebe

So ungefähr ging meine heutige Predigt im Gefängnis:

Da ist dieser glückliche amerikanische Familienvater Mack, dem es an nichts fehlt und der dann während eines Ausflugs mit seinen drei Kindern das Unglück seines Lebens erlebt: Seine jüngste Tochter verschwindet und bleibt verschwunden, trotz langer und intensiver Suche.
Das hebt sein Leben aus den Angeln.
Über die Zeit verfliegt seine Trauer nicht etwa, sondern verstärkt sich. Er kann den Verlust nicht ertragen und gleitet mehr und mehr in die Depression. Weder seine zwei verbliebenen Kinder noch seine Frau kann er in seinem Schmerz an sich heranlassen und gibt Gott zudem die Schuld an seinem Leiden und an allem Unglück in der Welt.

Das ist die Ausgangslage des Buches "Die Hütte. Ein Wochenende mit Gott" von William Paul Young (2007). Ich habe zugegebenermaßen nur den Film (2017, von S. Hazeldine) gesehen und kann mein Wissen allein daraus ziehen. Trotz der sehr rührseligen und kitschig erzählten Geschichte finden sich im Film einige menschliche und christliche Wahrheiten, die es wert sind, dass man sich mit ihnen beschäftigt.

Welch bedeutsame Hütte!
Kleinbrembach, 2015.
Alles dreht sich um die Frage des heutigen Evangeliums (Mt 22,34-40), wie in einer solchen Situation ähnlich der, in der Mack sich befindet, die Liebe zu den Nächsten und zu Gott überhaupt (wieder) möglich ist.
Denn darum geht es im weiteren Verlauf: wie sich der gebrochene Mann von ganz unten wieder auf den inneren Weg zu Gott und schließlich zu seinen Mitmenschen macht.
Alles beginnt mit einem Brief, der Mack für ein Wochenende an den Ort des schrecklichen Geschehens, eben in "Die Hütte", einlädt. Unterschrieben ist der Brief von Gott, und zwar mit dem Kosenamen Papa, den besonders Macks Frau benutzt. Nach einigem Zweifel fährt er allein dorthin und erlebt seine persönliche Begegnung mit Gott, die Heilung und Neubeginn ermöglicht.
Wie geschieht das?
Ich möchte nicht den ganzen Film nacherzählen oder die Darstellung der diversen Erscheinungsformen des dreifaltigen Gottes aufdröseln. Es geht mir um die Essenz:
Was Mack hilft, ist das Geschenk von freilassender Gastfreundschaft und behutsamer Erweiterung seiner von Schmerz getränkten Weltsicht.

Den Einbruch seines Schmerzes erlebt er bildhaft bei einer Bootsfahrt, als das dunkle Wasser aus der Tiefe sein (Lebens-)Boot kaputtmacht – der Schmerz, die Schuldzuweisung und die Wut untergraben alles, was eben noch so schön und idyllisch aussah. In dieser beängstigenden Situation steht jedoch plötzlich Jesus, der göttliche Sohn, neben ihm und reicht ihm die Hand - eine Erinnerung an die Situation des untergehenden Petrus auf dem See (Mt 14,22). Erst aber muss die Fixierung auf das Dunkle und Böse überwunden werden, bevor Vertrauen zum tragenden Grund und eine neue Beziehung wachsen kann. 
Als Mack es schafft, auf Jesus zu schauen und nicht mehr auf sein eigenes Unglück, kann er seine Hand nehmen und sich sogar auf den Weg über das Wasser machen.

Wie steht es um mein Lebensboot?
Alt-Buchhorst, Grünheide, 2016.

Eine weitere Veränderung seiner persönlichen Perspektive lernt Mack unter anderem in einer Szene, in der er selbstbewusst einen symbolischen Richterstuhl erklettert und zwischen Gut und Böse unterscheiden will.
Das in uns allen liegende Urteilen (über die eigene Lebenssituation und so viele andere Dinge) geschieht immer nur aus einer äußerst beschränkten Sicht heraus. Mack wird deshalb hart auf die Konsequenzen dieses strengen und halbblinden Urteilens hingewiesen: würde Gott derart hart und eindeutig verdammen wie Mack, dann wäre es, als würde er als Vater sich für nur eines seiner Kinder entscheiden können. Perfekt ist niemand, unschuldig auch nicht (wie Mack aus der eigenen Lebensgeschichte weiß), aber eine durchschlagende Strafgerechtigkeit ist eben keine Gerechtigkeit, sondern Unbarmherzigkeit.
Und: Würde Gott (wie Mack) aus seinem Schmerz über die Sünden der Menschen entscheiden, hätten wir wohl nichts Gutes zu erwarten.
Aber so ist Gott eben nicht. Und die Richterstellung über Leben und Welt gebührt eben nicht dem Menschen.
Über mehrere Stationen kann Mack sich an diesem Wochenende mit seiner eigenen Vergangenheit und mit seinem Vater aussöhnen, aber auch mit Gott. Durch diese Versöhnung gelangt er zu Vergebung und einem radikalen Perspektivwechsel.

Als tatsächlicher Ausweg aus den Ausweglosigkeiten des Lebens und als bestes Mittel zu einem wirklichen inneren Neuanfang empfiehlt sich (nach diesem Film und der christlichen Tradition) also ein weites Herz, das sich lieben lässt und zu Vergebung bereit ist; es empfiehlt sich Vertrauen in das Gegenüber Gottes, der es gut meint und es empfiehlt sich das Zurücklassen von Schmerz und daraus resultierendem Zorn, um, so ein kitschig-schönes Bild gegen Ende des Films, einen neuen wunderschönen Baum im eigenen Lebensgarten wachsen zu lassen. 

Das sind keine einfachen Antworten, sondern das ist ein anspruchsvoller mentaler Prozess, der Geduld und Mut zum immer wieder neu Probieren erfordert. Und es geschieht nicht von jetzt auf gleich, aber mit viel Zeit und, wie es Gott im Film ausdrückt, mit vielen guten Beziehungen.

Ein solch erleuchtendes Wochenende mit Gott wäre natürlich das Highlight, aber die meisten von uns müssen sich mit ihren eigenen mehr oder weniger belanglosen Alltäglichkeiten begnügen.

Wenn nun aber Vertrauen, Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft, Großherzigkeit und Geduld für den weiten Weg das Fundament sind, um darauf Gottes- und Menschenliebe zu bauen, wie sähen diese dann aus?
Ich habe zwei Bilder mitgebracht, die dazu vielleicht einen Anstoß geben können.

Zuerst die Gottesliebe: Letzte Woche habe ich ein Kunstwerk gefunden, das sich noch bis übermorgen in einer Ausstellung zum 500. Reformationsjubiläum im Alten Gefängnis in Wittenberg findet. In der Ausstellung "Luther und die Avantgarde" haben zeitgenössische Künstler versucht, den Ort eines ehemaligen Gefängnisses (Baujahr 1906) mit Kunstwerken zum Thema Luther und die Reformation bzw. Gefängnis zu bestücken.
Kunst im Dienste der Selbsterkenntnis.
'Inner touch sphere' von Olafur Eliasson, Wittenberg, 2017.
Der dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson hat eine Arbeit installiert, die in einer ehemaligen Gefängniszelle eine erstaunliche Wirkung entfaltet. Es ist eigentlich "nur" eine mit Platten umkleidete Lampe, die aber durch die Anbringung der Platten ein Muster auf die umgebenden Mauern, in diesem Fall des Gefängnisses wirft.
Als ich das gesehen habe, dachte ich mir (sicher nicht als erste Intention des Künstlers), dass vielleicht mancher Inhaftierte hier wie dieses Kunstwerk ist – wenn man in seine Zelle hineinschaut, dann kann man zwar erkennen, dass es in dieser Person ein Licht gibt, aber dass alles weitgehend verdunkelt ist. Das mag zwar bisweilen ein nettes Muster ergeben, an dem sich andere erfreuen können, nur kann die Person ihren eigentlichen Zweck, nämlich zu leuchten, nicht (oder nicht zur Gänze) erfüllen.
Wir Menschen sind geschaffen, um zu leuchten. Wir können Lichter sein, die von innen Helligkeit ausstrahlen, und zwar dann, wenn wir mit Gott im Kontakt sind. Doch wenn wir Gott abblocken, wie ebenjener Mack in "Die Hütte", mag zwar vieles in unserem Leben schöne Muster ergeben. Doch ohne den liebevollen Kontakt zu Gott ist der Großteil der Lampe wie abgedunkelt. Es gehört zu unserem Menschsein dazu, auf Gott bezogen zu sein. Doch wenn wir ihm gegenüber im Groll verharren oder uns abwenden oder anderes wichtiger finden, wird unser Leben nicht besonders lichtvoll sein.
Gerade im Gefängnis sehen wir vielleicht eher das Dunkle und Abgeschirmte von einem Menschen. Unsere Aufgabe als Christen ist es hier, den Anderen zu helfen, dass ihr Licht leuchten kann. Und dass auch unser eigenes Licht der Beziehung zu Gott leuchtet
(Natürlich kann und muss dieses Kunstwerk auch ganz anders interpretiert werden, aber diese Interpretation habe ich für diesen Anlass gefunden.)

Dann die Nächstenliebe:
Ich habe eine Art Bild vorbereitet, das ich in meinem Sprechzimmer im Haftkrankenhaus aufhängen möchte.Es ist nur ein Rahmen und ein Goldgrund. So wie die Ikonen der Ostkirche oder die mittelalterliche Tafelmalerei. Diese Bilder und Ikonen wiesen durch ihren goldenen Hintergrund auf die göttliche Bedeutung des Dargestellten hin. Es wurde angezeigt, dass dort etwas Besonderes geschah, das hervorgehoben werden sollte, etwas das eine besondere Tiefe hat. Der Goldgrund hatte also die Funktion, die "überirdische Sphäre anzuzeigen, die ausgezeichnete Personen beheimatet."1
Genau vor einem solchen Hintergrund möchte ich meine Gesprächspartner im JVKB zukünftig sehen. Sie sind die von Gott "besonders geliebten" Personen (wie es in "Die Hütte" mehrfach heißt). Genauer gesagt: Jede Person ist von Gott besonders geliebt – und auch wir sind aufgefordert, sie in diesem Licht der göttlichen Liebe zu sehen.
Dann wird es auch uns leichter fallen, sie zu lieben.
Gestalt vor Gold.
Berlin, 2017.
Deswegen habe ich mir den Rahmen mit Goldgrund als Erinnerungshilfe besorgt. Die mir gegenüber sitzende Person, die mir von Drogenproblemen, von den vielen Rückfällen und von der schrecklichen Kindheit erzählt, diese Person, die schon wieder Tabak von mir haben will, diese Person, die jemand anderen krankenhausreif geschlagen oder umgebracht hat – diese Person ist die von Gott geliebte Person.
Die auch ich lieben soll.
Die ich deswegen auch lieben will, eben weil Gott sie als sein geliebtes Kind anschaut.
Das ist die eigentliche Provokation des Christseins - den Nächsten zu lieben so wie er (oder sie) ist.

Auch dazu also meine Einladung: Gerade hier im Knast ist es vielleicht nicht besonders einfach, Menschen vor dem Goldgrund zu sehen, vor dem Gott sie sieht. Aber ich lade Sie dazu ein, es immer wieder zu versuchen, im Gegenüber – sei es nun ein Beamter oder eine Sozialarbeiterin oder ein Mitinhaftierter – das geliebte Kind Gottes zu sehen.
Und wenigstens zu versuchen, dieses Gegenüber mit den liebevollen Augen Gottes anzuschauen.
Denn die Liebe ist jene "überirdische Sphäre", die Liebe ist die Vergebung und das Leuchten, die Liebe ist die Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit und die Offenheit, sich auch von Gott lieben zu lassen.

1   N. Wolf, Die Macht der Heiligen und ihrer Bilder. Stuttgart 2004, 47.