Freitag, 27. Oktober 2017

Spirituelle Impotenz? Religiöse Erfahrung in "Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters"

Die Frage nach der eigenen Identität, die dieser Tage nicht nur die Katalanen in stürmischer Weise umtreibt, sondern auch viele verunsichert-besorgte Menschen in den Demokratien der EU und darüber hinaus, ist eine Frage, die sich auch alle, die eine Migrationsbiographie haben, immer wieder stellen.
Wo gehöre ich hin, ab wann gehöre ich dazu, wo will ich überhaupt dazu gehören und wo auf keinen Fall, welche parallelen oder mehrfachen Zugehörigkeiten habe ich oder habe ich nicht....?

Der unlängst an diesem Ort schon erwähnte Roman "Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters" von Dimitrij Kapitelman hat genau dasselbe Thema – der Erzähler ist mit seinem Vater nicht nur auf eine biographische, sondern auch auf eine politische und religiöse Identitätssuche gegangen und nach Israel gereist.

Neuer Kopf gesucht.
Japanisches Palais, Dresden, 2017.
Dort lernt er nicht nur seinen titelgebenden Vater neu kennen, sondern vornehmlich sich selbst. Mit viel Ironie und Sprachgefühl (manchmal auch etwas überdreht) werden nicht nur verschiedene Themen von antipalästinensischen Ressentiments aufgeworfen, sondern auch die Frage, was denn ein Jude eigentlich sei. Schließlich hat der Autor keine jüdische Mutter, nur den jüdischen Vater – und auch der ist, ebenso wie der Sohn nichtreligiös.
Allerdings sind die Dinge natürlich kompliziert, denn der außerhalb Israels ins Unsichtbare drängende Vater bekennt sich plötzlich fallweise und immer mehr zu seinem Judesein, erzählt von seinem eigenen Vater, der Rabbi war, verweigert sich allerdings eindeutigen Bekenntnissen zum Religiösen.
Dazu kommt nicht nur die jüdisch-orthodoxe Bewertung, nach der Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat, ins Spiel, sondern eben auch die Großzügigkeit des politischen Israel. Während eines Besuchs im Beit-Hatefutsoth-Museum kommt der Sohn mit einem Genealogen ins Gespräch, der ihm nach einem längeren Gespräch versichert: "Sie können sofort Bürger dieses Landes werden."1

Dieser Satz verändert alles. Von nun an hat der Identitätssucher einen quasi-religiösen Stimulus, der ihn vorantreibt. Trotz seiner Unkenntnis religiöser Bräuche und Riten, trotz seines fehlenden Glaubens und seiner Lebensweise findet er in diesem Satz einen Ton, den er sein Leben lang gesucht hat. Die Auswanderung aus der Sowjetukraine in jungen Jahren, die Ausgrenzung als "Ausländer" in der Schule und die Verfolgung des "Russen" durch ostdeutsche Neo-Nazis im Leipziger Plattenbauviertel haben ihre Spuren hinterlassen. Keine Heimat, nirgends.

Als ihn dann in Tel Aviv auch noch einige orthodoxe Juden auf der Straße zu einer "Quick-Mizwa" einladen, lässt er sich überrumpeln und zu einem jüdischen Gebet inklusive Kippa und Teffilin drängen. Sein inneres Tosen als atheistischer Deutscher vermischt sich wunderbar mit der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und jüdischer Identität. Der innere Streit ist eindrücklich wiedergegeben:
Während der Verstand "mit Begriffen wie künstliche Identitätskonstruktion und emotionale Überkompensation" hantiert, ruft das Herz "zu Freudenfesten auf, verfasst Pamphlete, in denen es von Erlösung, Geborgenheit und einer warmen Heimat schwärmt. Ich werde endlich ankommen, dazugehören. Kein in Klammern Migrationshintergrund, keine Skepsis, kein Inneres Gericht. Jude in Israel. Punkt.
Erschreckend, wie sehr ich mich nach einem klaren Bekenntnis gesehnt habe, sagt der Kopf. Hör nicht auf den intellektuellen Nörgler, trällert das Herz. Mit dem wirst du nicht glücklich."2
Dieses Durcheinander löst sich erst auf, als er nicht nur hebräische und englische Gebetsworte nachplappern muss, sondern aufgefordert ist, noch ein persönliches Gebet zu sprechen. Davon vollends überrumpelt – und nach der richtigen Handhaltung suchend – fühlt er sich als "der gläubigste Ungläubige",3 der er je war. 

Religiöse Bedeutung suchen!
Sonnenflecken im Wald bei Eberswalde, 2017.
Aber genauso wie die Überschneidungen zwischen religiöser und genetischer jüdischer Identität unterbelichtet bleiben, wird auch diese Erfahrung auf den nächsten Seiten im Gespräch mit dem skeptischen Vater wieder runtergedampft auf die Sehnsucht nach Heimat. "Ankommen und dazugehören. Als vollwertiges Mitglied anerkannt werden. Ganz selbstverständlich."4
Dass das als Grundbedürfnis legitim ist, steht außer Frage. Aber es wirft durch das existenzielle Gerütteltsein einen staatlichen Akt und den Kern religiösen Handelns in einen Topf, aus dem keine schmackhafte Mischung kommen wird.

Dementsprechend religiös mit Erwartungen überfrachtet wird der Besuch an der Klagemauer, der dem Autor zwar die Knie schlottern lässt, ihn aber nicht weiter in Richtung Gebet bringt. Der Versuch, aus dem Nichts religiöse Gefühle oder eine überwältigende Erfahrung der Zugehörigkeit aufzurufen, scheitert gehörig: "Ich würde gern, kann aber nicht. Spirituelle Impotenz. Im Gegensatz zu Papa lasse ich mir dennoch viel Zeit. Starte mehrere Durchläufe, gehe immer wieder in mich. Alles zwecklos."5

Ohne überheblich klingen zu wollen, zeigt sich an dieser Stelle doch ein grundsätzlich problematischer Zug bei der Annäherung an religiöse Phänomene im Buch. Natürlich geht ein säkular sozialisierter Mensch heute davon aus, dass die eigene religiöse Anstrengung und der Versuch, die mentale Offenheit großzumachen, auch zu spürbaren Ergebnissen und Erlebnissen führt. Aus der fernöstlichen Spiritualität nach Europa eingebrachte Methoden suggerieren ja auch eine solche Handbarmachung von Religiosität durch praktisches Tun.

Allerdings war der biblische Gott immer einer, der selbst und von sich auf die Menschen zugeht, gerade dann, wenn sie es nicht erwarten oder wollen. Entgegen mancher (auch christlicher) Diffamierung ist das Judentum keine Religion der Machbarkeit. Sondern ein Ereignis, das aus dem Lernen aus der Schrift und dem Umgehen mit dem göttlichen Gebot, aus der gesamten Lebensführung und eben auch aus dem Gebet erwächst.
Der Versuch, religiöse Erfahrung herbeizubeten, widerspricht dieser Einsicht natürlich. Viel öfter wird es ein radikales Getroffenwerden sein wie bei der Einsicht, als Sohn eines Juden tatsächlich in diesem Land willkommen zu sein.

Die kritische Quintessenz folgt nach einem Auflug ins Westjordanland mit dort intensiv erfahrenen freundschaftlichen Begegnungen mit den verfemten Palästinensern und lautet, dass sich aus diesen Begegnungen ein neues "Stück Selbstverständnis" ergab. "Es beruht nicht auf einem Pass, nicht auf einem Besuch im Diasporamuseum und ganz bestimmt nicht auf Gebeten an der Klagemauer. Sondern auf der Freundschaft zu Menschen, die angeblich meine Feinde sind."6

Die Begegnung mit den wirklichen Nächsten als Offenbarung!
Das ist eine eminent religiöse Kategorie, auch wenn sie oftmals (und auch in diesem Fall) nicht als religiöses Ereignis klassifiziert wird. Und sicher, es steckt viel mehr in der Freundschaft als Religion.
Aber es wäre dem Autor (bzw./und/oder seinem literarischen Alter Ego) zu wünschen, dass er die religiöse Seite dieser Begegnung würdigen kann. Das dauernde nachträglich kritische Zerkauen und Abqualifizieren seiner Erlebnisse hebt ihn zwar auf die Höhe unserer Zeit.
Das Wertschätzen und Neu-Entdecken seiner zwischenmenschlichen Erlebnisse auch als religiöse Ereignisse würde ihn weiter öffnen und seiner Identität spirituelle Potenz einhauchen.
Stichwort Mt 25,40.

Echte Gefühle vor der falschen Klagemauer.
Ehemaliges Umspannwerk Rixdorf, Berlin, 2017.

1   D. Kapitelman, Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters. München 2016, 136.
2   Ebd., 141f.
3   Ebd., 142.
4   Ebd., 149.
5   Ebd., 167.
6   Ebd., 255.