Donnerstag, 9. November 2017

Die Deutschen vor ihrer Landschaft. Zum 9. November zwei Sätze von Yasmina Reza.

"Man kann nicht erkennen, wer die Leute sind, wenn man von der Landschaft absieht."1 Dies sei, so äußerte Yasmina Reza im Interview mit dem SPIEGEL, der Satz, auf den sie in ihrem letzten Roman "Babylon" besonders stolz ist.
Am 9. November lässt sich viel von der Landschaft der Deutschen erkennen. Hier spiegelt sich die geistige Umgebung, in der wichtige Momente deutscher Gemütslagen aufbewahrt sind.

Einer dieser Momente ist der 9. November 1938, als in der Reichspogromnacht die Läden vieler jüdischer Unternehmer und Handwerker zerstört wurden, viele Synagogen angezündet und verwüstet und viele jüdische Deutsche ins KZ Sachsenhausen verschleppt wurden. Es war der symbolische Auftakt der kommenden Greuel bis nach Auschwitz, an die wir heute mit Scham und Ekel denken.

Ein anderer Moment ist mit dem 9. November 1989 die unverhofft-erhoffte Öffnung der Grenzen in Berlin und der ganzen DDR, nachdem monatelang demonstriert, diskutiert und gebetet wurde. Die Mauer war zum Einsturz gebracht worden, die Freiheit war zum Greifen nah.

Feuchte Landschaft. Linum, 2016.
Das ist die mentale Landschaft, in der wir stehen. Ein grausamer Gewaltexzess und das unstillbare Freiheitsverlangen geben dem Tag sein Gepräge.
Sicher, nicht jeder mag sich in dieser Landschaft gern oder einfachhin wiederfinden. Aber sie prägt doch vieles, was Deutsche heute ausmacht.
Die kritische deutsche Selbstvergewisserung, die immer mit ein bisschen unpatriotischer Nüchternheit einhergeht, hat hier ebenso ihr Zuhause wie der Freiheitstraum so vieler Abenteuerlustiger. Und ja, wer weiß, wahrscheinlich sind die beiden Momente des 9. November gar keine exklusiv deutschen Landschaften, sondern die mehr oder minder erinnerte Gewaltgeschichte und die mehr oder minder aktuelle Freiheitsgeschichte in der DNA vieler Kulturen und Nationen.

Nur dass sie sich selten so prominent an einem Tag die Hand reichen.
Vielleicht ist es dieses Überschneiden, dieses unfreiwillige Zusammentreffen, das die deutsche Landschaft so spannungsvoll erscheinen lässt.

Einer der Hauptakteure in Yasmina Rezas Roman, es ist der durchaus sympathisch gezeichnete Mörder, hat, so schreibt Reza auf der letzten Seite, "ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer schattenhaften Gemeinschaft empfunden". In diesem Sinne scheint auch die Ich-Erzählerin den letzten Satz des Romans zu sagen: "Ich schaute zum Himmel auf und zu allen, die sich dort befanden."2

Lese ich diesen Satz im Kontext des 9. November, so fühle ich diese Gemeinschaft mit den Lebenden und den schon Verstorbenen, mit den Tätern der Gewalt und ihren Opfern, mit den um Freiheit Kämpfenden und den in Unfreiheit Haltenden.

Alle gehören sie dazu, und ich auch. Sie sind meine Landschaft, ich werde Teil der Landschaft für die kommenden Generationen sein. Einer Landschaft hoffentlich, die mehr und mehr vom Kampf für Freiheit und gegen Gewalt geprägt sein wird.

Karger Baum in der Landschaft. Kirschtal bei Weimar, 2016.

1   Interview mit Yasmina Reza, in: Der Spiegel 32 / 2017, 117.

2   Yasmina Reza, Babylon. München 2017, 219.