Freitag, 26. Januar 2018

Die Gewalt der Gefolterten. Zum Holocaustgedenken

Wenn ich an die Opfer der NS-Diktatur denke, dann in den meisten Fällen an die Überlebenden. Sie, die Zeitzeugen, die inzwischen Uralten, die Gezeichneten, die mit Überleben Beschenkten oder Gestraften, sie können sagen und zeigen, wie es war und wie es danach ist.
Das hat auch mit meinem Freiwilligendienst in der Ukraine zu tun, als ich 2001/2002 einige Überlebende in Lemberg besucht habe.

Diese Überlebenden tragen ihre Gewalterfahrungen über Jahrzehnte mit sich herum. Manche ertragen sie mit Alpträumen, andere mit Schweigen, wieder anderen hilft es, mit sehr vielen Worten zu erzählen und persönlich Zeugnis abzulegen.
Und nicht wenige reagieren auf die Gewalterfahrungen mit Härte und eigener Gewalt.

Schornstein.
Grünheide, 2017.
Das schreibe ich nicht, um sie zu diskreditieren, sondern um ins Gedächtnis zu rufen, dass sehr viele Menschen, die Gewalt erlitten haben, auch Kriegsversehrte, Missbrauchsopfer und Geflüchtete, die erlittene Gewalt nur durch eigene Gewalt kompensieren können. Im Strafvollzug und beim Thema sexueller Gewalt an Minderjährigen ist dieser teuflische Kreislauf seit Jahren bekannt.
Und hier wie dort ist (bei aller Eigenverantwortung) klar: Es war ursächlich die erlebte Gewalt, die nun Gewalt auslöst. Eine perfide Erfahrung.

Ein fiktional erzähltes Beispiel fand ich gerade in der Lektüre von "Ikarien", dem letzten Roman von Uwe Timm. Der deutsch-amerikanische US-Offizier Hansen beschreibt in einem Tagebucheintrag seine Eindrücke aus dem zerstörten Deutschland:

"17. August [1945]
... Fremdarbeiter, displaced persons, die immer noch durch das Land ziehen und sich jetzt nach Monaten oder gar Jahren des Hungers und der Drangsalierung einfach das holen, was ihnen fehlt. Man könnte es Plündern nennen, wüsste man nicht von ihrer Vergangenheit, in der sie in Lumpen gehen mussten. Eine Heerschar, die ruhelos von Ost nach West und von West nach Ost zieht. ...
Die über Jahre Erniedrigten zeigen oft eine brutale Ruppigkeit – auch untereinander."1

Der Text an sich ist nicht sonderlich bemerkenswert.
Aber er zeigt doch im Gewand des Romans diese im Lager angelernte Unfähigkeit, sich gegenseitig als achtenswertes Geschöpf, sich gegenseitig als Mitmensch anerkennen zu können.
Und natürlich enthemmt Gewalt zu immer mehr Gewalt und kann schließlich zu einem Götzen werden. Dieser Götze ist die unbeschränkte Macht über den Mitmenschen, wie er sich auch bei den Befreiten ausbreiten konnte, wenn sie ihre ehemaligen Peiniger nach der Befreiung wiedertrafen.

Davon berichtet sehr anschaulich Tadeusz Sobolewicz, ehemaliger Häftling in Auschwitz, Buchenwald und anderen KZ in seinen Erinnerungen "Aus der Hölle zurück".
Als er nach der Befreiung bei Regensburg auf ebenjenem Weg durch Europa ist, der oben im Roman beschrieben wird, begegnet er einer anderen Gruppe, die einen ehemaligen SS-Scharführer gefangen genommen hat und schon eine geraume Zeit malträtierten. Ich erspare mir die Einzelheiten der detaillierten Beschreibung und zitiere nur den Eindruck von Sobolewicz:
"Ich hatte im Lager entsetzliche Dinge gesehen, und ich hatte geglaubt, ich sei immun dagegen. Doch als ich diese Überreste eines menschlichen Wesens erblickte, bekam ich eine Gänsehaut. Er hatte am ganzen Leibe keinen einzigen weißen, unversehrten Fetzen Haut."
Im Keller.
Bad Freienwalde, 2014.
Als sein Begleiter diesen ehemaligen Peiniger erschießen will, versperren die jetzigen Peiniger ihm den Weg mit der Begründung:
"Hier ist kein Mitleid am Platz! Dieser elende Hund hat zwei tage vor der Befreiung meinen alten Vater umgebracht. Meine Mutter und meine Schwester haben die Halunken in Auschwitz verbrannt. Dieser da muß für all das büßen!"
Auf diese verallgemeinernden Gründe des Gewaltexzesses kreisen dem Autor die folgerichtigen, moralisch gebotenen Fragen im Kopf: "Mußten wir deshalb, weil man uns gepeinigt und geschlagen wurde, mußten wir deshalb dasselbe tun?"2

Das ist die reflektierende, nicht die reflexhafte Reaktion. Eine Reaktion, die Abstand gefunden hat und nicht mehr der Hölle verhaftet ist.
Aber tatsächlich kann man, den Titel seines Buches aufnehmend, fragen:
Wie sollte, wer aus der Hölle kommt, die Manieren des Himmels geübt haben?

Dieses Fragen ist keine Entschuldigung für alles, aber es kann verstehen helfen.
Wenn man denn verstehen möchte. Auch heute: Wie sollen junge Männer, die aus der Hölle eines Krieges in Syrien kommen, auf einmal frei sein von der Hilflosigkeit, die Gewalt gebiert, von der Angst, die mit Gewalt zurückgeschlagen werden soll, von der frustrierenden Perspektivlosigkeit in der Fremde, die aus eigener körperlicher Stärke Selbstwert machen will, von all dem, was Gewalt fördert und hervorbringt?

Doch zum Glück geht der 27. Januar ursprünglich auf die Befreiung der überlebenden KZ-Häftlinge von Auschwitz zurück. Und Befreiung, äußere wie innere, sollte das bleibende Motiv des Gedenkens an die Opfer des Holocaust sein. Das ist der Kern der moralisch noblen Reaktion von Tadeusz Sobolewicz, dass sie sich innerlich von der Gewalt befreien konnte. Er lebte die Auferstehung aus der Gewalt-Hölle von Auschwitz.
Es geht bei diesem Gedenken um die Toten. Aber auch um Befreiung von der lebensvergiftenden Angst und um die Befreiung vom Zurückfallen in die Muster der Gewalt. Es geht auch um die Stärkung der Widerstandskraft gegen die Gewalt.

Licht ist oben.
Gedenkkirche Maria Regina Martyrum, Berlin, 2017.


1   U. Timm, Ikarien. Köln 2017, 376.


2   T. Sobolewicz, Aus der Hölle zurück. Von der Willkür des Überlebens im Konzentrationslager. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2000, 253.