Freitag, 23. Februar 2018

Das Sterben spüren 2 – John Williams' "Stoner"

Einer der traurigsten Romane, die ich in den letzten Jahren las, endet passenderweise mit einer langen und tiefgehenden Sterbeszene.

Der in den letzten Jahren wiederentdeckte John Williams hat mit "Stoner" die Geschichte eines überraschend aus einer bildungsfernen Bauernfamilie aufgestiegenen Literaturdozenten geschrieben.
Trotz seiner sicheren Stelle an einer Provinzhochschule ist Stoner nicht angekommen im erfüllten Leben, durch akademische Triebe ebenso wie seine unglückliche Ehe steht er eher am Rande und nimmt die Entwicklungen seiner Umwelt eher aus der Distanz wahr.
John Williams hat dafür eine eindrückliche Sprache gefunden, die in der Beschreibung des Sterbens aus Stoners eigenem Blickwinkel zu ihrem verdichteten Höhe- und Endpunkt gelangt.

Ausblick auf die Wand.
Schloss Belvedere, Weimar, 2018.
Im Anschluss an eine Krebsoperation nach Hause entlassen, stellt der gerade erst Emeritierte resigniert fest:
"Er wusste, nach und nach würde das kleine Zimmer, in dem er nun lag und aus dem Fenster sah, seine ganze Welt werden"1 und so lässt er sich seine Bücher dorthin bringen, um in den verbleibenden Wachphasen noch einmal auf seinen bisherigen Lebensinhalt zu schauen. Die radikal zunehmende Verkleinerung des Lebensraums ist typisches Symptom des nahenden Todes.

Bei den Besuchen verschwimmen Stoners Wahrnehmung und Phantasie zunehmend und zunehmend unsicher, wem er da was tatsächlich oder doch nur in Gedanken gesagt hat, driftet er immer weiter fort. Noch kann er dies in helleren Momenten begreifen, denn einmal wird ihm bewusst, "dass der Verstand nachließ, wenn der Körper schwächer wurde, trotzdem war er nicht darauf gefasst gewesen, dass es so schnell gehen würde."2 Eine eigentlich paradoxe Einsicht – da sie voller Klarheit konstatiert, steht sie doch noch weit über dem festgestellten Verfall. Doch die Phasen von Schlaf und Entschlummern mitten im Gespräch werden häufiger und die Konzentration bleibt nie lang.
Dennoch reicht sie für ein deprimierendes Resümee der Vergeblichkeit vieler seiner Lebensbemühungen:
"Er hatte Freundschaft gewollt und freundschaftliche Nähe, die ihn im Schoß der menschlichen Gemeinschaft hielt; und er hatte zwei Freunde gehabt, der eine war sinnlos gestorben, ehe er ihn richtig kennenlernen konnte, der andere zog sich jetzt so weit in die Riege der Lebenden zurück, dass ... Er hatte die Einzigartigkeit, die stille, verbindende Leidenschaft der Ehe gewollt; auch die hatte er gehabt und nicht gewusst, was er damit anfangen sollte, also war sie gestorben. [...]
Viele Fenster.
Orangerie, Schloss Belvedere, Weimar, 2018.
Er hatte ein Lehrer sein wollen und war einer geworden, doch wusste er, hatte es immer gewusst, dass er über weite Strecken seines Lebens nur ein mittelmäßiger Lehrer gewesen war. Er hatte von Integrität geträumt, einer Art allumfassender Reinheit, aber Kompromisse und die grellen Zerstreuungen des Trivialen gefunden."3

Ein solch vernichtender Blick auf das eigene Scheitern ist niemandem zu wünschen. Zugleich ist es nur realistisch, im Rückblick auf das Leben eine Menge Trivialitäten und Halbheiten wahrzunehmen und zeugt von tiefer Durchdringung seiner selbst, sich nicht für den Mittelpunkt der Welt zu halten. 

Dreimal fragt Stoner sich im Anschluss an seine letzte Lebensschau: "Was hast du denn erwartet?"4

Und mit dieser Frage scheint eine größere Leichtigkeit Einzug zu halten. Es ist weniger Resignation als vielmehr das loslassende Annehmen der eigenen Lebensrealität.
Es ist kein trauriges Sich-Abfinden, sondern eine Sanftheit, "eine Mattigkeit legte sich auf seine Glieder, und ein Gefühl der eigenen Identität überkam ihn mit plötzlicher Kraft; er fühlte seine Macht. Er war er selbst, und er wusste, was er gewesen war."5
Inmitten dieses Gefühls für sich selbst kann Stoner nun vollständig loslassen.
Ein letztes Mal greift seine Hand nach dem Bücherstapel und findet seine eigene jahrzehntealte Dissertation.
"Er schlug das Buch auf, und als er es tat, war es nicht länger seins. Er ließ die Finger darin blättern und fühlte ein Kribbeln, als wären die Seiten lebendig. Das Kribbeln breitete sich aus und durchdrang Fleisch und Knochen, bis in alle Details war er sich dessen bewusst, während er darauf wartete, dass es ihn ganz umschloss [...]
Das Sonnenlicht wanderte übers Fenster und fiel auf die Seiten, aber er konnte nicht mehr lesen, was da geschrieben stand."6

Das, was er einst für die Essenz seines Arbeitslebens hielt, ist am Ende unlesbar geworden. Aber das stört nun nicht mehr, es ändert ja sowieso nichts und ist schon nicht mehr seins.

Diese Handgriffe im Sonnenschein als die letzten Aktivitäten eines Menschen beschrieben zu haben, halte ich bei all der realistischen und resignativen Stimmung, bei aller Trauer und aller Enge, die die Seiten davor und eigentlich das ganze Buch bestimmten, doch für eine sehr angenehme Sympathie des Autors für seinen Helden. 

In solchen letzten Worten findet sich die große Weitung am Ende eines normalen, mittelmäßig-kleinen Lebens. Theologisch würde man beim letzten Erreichen einer solchen inneren Freiheit wohl von Gnade sprechen.

Letzter Blick.
Schloss Belvedere, Weimar, 2018.


1   J. Williams, Stoner. München 2014, 38.
2   Ebd., 345.
3   Ebd., 344f.
4   Ebd., 345, 346, 347.
5   Ebd., 348.
6   Ebd., 348.349.