Dienstag, 6. Februar 2018

Religion als Aufbruch ins Ungewisse. Noch ein Satz von Yasmina Reza

"Dem großen Biologen Svante Pääbo zufolge unterscheiden wir uns vom Neandertaler nur durch eine winzige Modifikation auf einem bestimmten Chromosom, mehr nicht. Eine ungewöhnliche Mutation des Genoms, die angeblich den Aufbruch ins Ungewisse erlaubte, die Überquerung der Weltmeere ohne sicheres Land am Horizont, den ganzen fieberhaften Hang der Menschheit zu Forschung, Kreativität und Zerstörung. Kurz und gut, ein Verrückheitsgen."1

Aufbruch möglich?
Altes Boot in Müllrose, 2017.
Ich habe keine Ahnung, ob diese biologische Aussage eine literarische Erfindung von Yasmina Reza ist oder nicht. Es interessiert mich auch nur am Rande. Denn ihr inhaltlicher Kern wirft einen interessanten Blick auf den Menschen, der angesichts der Menschheitsgeschichte auch wirklich plausibel erscheint. 
Ob dieser Blick nun auf einer Chromosomen-Modifikation beruht oder auf etwas anderem ist dabei zweitrangig.

Der Mensch wäre demzufolge von Natur aus ein Abenteurer, der immer weiterstrebt und sich nicht begnügt mit dem Vorgefundenen. Der sich selbst immer weiter überschreiten will. Der sich nicht einrichten kann in der Endlichkeit. Das wird (in aller daraus folgenden Ambivalenz) landläufig auch Religiosität genannt.

Man mag das verrückt nennen oder nicht2 – wer die religiöse Frage im Menschen und seinen unstillbaren Drang zum Aufbruch ins Ungewisse zusammendenkt, der wird Religion nicht in erster Linie als rückwärtsgewandte und restaurative Kraft definieren können. Vielmehr weist menschliche Religiosität hinein in ein durch irdische Ziele nicht zu bändigendes „Mehr“.
Aufgabe von Kirche und aller etablierten Religion ist es, die Sehnsucht nach diesem „Mehr“ zu wecken, die Wunde, die nach Gott schreit, offen zu halten, die letzte Verunsicherung zu ermöglichen.

Oder mit dem berühmten (oft verkürzten) Zitat Alfred Delps von Epiphanie 1945 in Plötzensee:
Der Mensch muß sich selbst hinter sich gelassen haben, wenn er eine Ahnung von sich selbst bekommen will. Das ist es, was den Menschen von heute so unsinnig erscheint, weil sie die unendlichen Gluten und die schimmernde Bläue und die grenzenlose Weite des göttlichen Wesens nicht mehr kennen, denen man sich überantworten muß. Man muß die Segel in den unendlichen Wind stellen, dann erst werden wir spüren, welcher Fahrt wir fähig sind.“3

Es klingt wie eine Variation von Rezas Satz.

Oben offen sein.
Neubau in Müllrose, 2017.


1   Y. Reza, Babylon. München 2017, 104.
2   Denn was wäre verrückter, als einen empirisch nicht nachweisbaren Gott anzunehmen? Noch dazu einen allgütigen und allmächtigen – angesichts des Grauens auf Erden. Einerseits. Doch was wäre gleichzeitig logischer, als hinter all den unausdenkbar kuriosen Lebewesen auf Erden einen schöpferischen Geist zu vermuten? Was allein wäre die Alternative zur staubigen Sinnlosigkeit der aufs Irdische reduzierten menschlichen Existenz, wenn nicht die alles zusammenfassende Gottesperspektive?
Je nachdem, für welche Perspektive man sich entscheidet (und ich glaube, es ist wirklich eine Frage der Entscheidung für eine bestimmte Sicht auf die Welt), wird man immer mehr Argumente für die Logik der einen oder aber der anderen Sichtweise entdecken können.
3   A. Delp, Das Gesetz der Freiheit. In: O. Ogiermann, Kein Tod kann uns töten. Alfred Delp – Denker und Mahner in dunkler Zeit. Leipzig 1982, 341.