Freitag, 16. März 2018

Das Sterben spüren 4 – William Goldings "Pincher Martin"

1 Kampf im Wasser
Ein Seemann ertrinkt während des Zweiten Weltkriegs irgendwo inmitten des Atlantiks.

"Er kämpfte nach allen Seiten zugleich, Mittelpunkt eines sich windenden, um sich schlagenden Knotens, der sein eigener Körper war. Es gab kein Oben und kein Unten, nicht Licht noch Luft. Er spürte, wie sich sein Mund selbsttätig öffnete, hörte, wie das Wort im Schrei herausbrach.
'Hilfe!'

Untergehen.
HIddensee, 2017.
Als die Luft zusammen mit dem Schrei draußen war, drängte Wasser herein, ihren Platz einzunehmen – brennendes Wasser, hart in Kehle und Mund wie scharfe kantige Steine. Er krümmte seinen Körper dorthin, wo Luft gewesen war, aber nun war sie fort und an ihrer Stelle nichts als schwarzes, erstickendes Chaos. Sein Körper ließ der Panik freien Lauf, und sein Mund zwängte sich auf, bis die Kiefergelenke schmerzten. Wasser stieß hinein, hinab, gnadenlos. Luft kam mit herein für den Bruchteil einer Sekunde, so daß er sich der vermutlich rettenden Richtung entgegenkämpfte. Aber das Wasser forderte ihn zurück und drehte sich im Wirbel, so daß das Wissen um die Stelle, an der Luft sein mochte, völlig ausgelöscht wurde. [...] Muskeln, Nerven und Blut, ringende Lungen, eine Maschine im Kopf, sie alle trafen sich zu episodenhaftem altem Zusammenspiel. Die Klumpen harten Wassers spülten im Schlund, die Lippen schlossen sich und öffneten sich wieder, die Zunge wölbte sich, das Hirn ließ eine Bahn aus Neonlicht aufflammen.
'Mutt-'
Aber der Mensch hing hinter dem ganzen Aufruhr in der Schwebe, losgelöst von seinem ruckenden, zuckenden Körper."1

Was für ein Kampf! Was für eine Sprache für diesen Kampf! Was für eine grausam detaillierte Schilderung der letzten Zuckungen eines Menschen!
Und im Kampf des Körpers das menschliche Bewusstsein, das sich an einem bestimmten Punkt von allem Schmerz und aller Qual entfernt...

2 Purgatorium und Spoiler
Doch es ist nur der erste Todeskampf, der den Körper genau beobachtet und äußerst nah am Geschehen aus personaler Sicht aufgeschrieben ist.
Mit William Goldings 1956 erschienenem Roman "Pincher Martin" liegt ein ganzes Buch als Todeserfahrung vor dem Leser. Genau genommen handelt es sich (Spoiler-Alarm!) um die Darstellung zweier Tode.
Das aber erfährt man erst ganz am Ende des Werkes. Nachdem sich der Seemann Christopher Headley Martin anscheinend auf einen einsamen Felsen retten konnte, beginnt sein Kampf ums Überleben, ein Kampf der ihn im Kampf mit der Natur, seinem Körper und seiner Lebensgeschichte immer näher in Richtung Wahnsinn treibt. Regelmäßig erinnert er sich daran, wie gut es gewesen wäre, hätte er im Wasser nicht seine Seestiefel von den Füßen gezogen. Das letzte Kapitel behandelt, davon ganz losgelöst, die Bergung des toten Martin, der es nach Aussage der Leichenfinder noch nicht einmal geschafft habe, "sich die Seestiefel von den Füßen zu stoßen."2

Diese Aussage dreht das ganze Buch um und macht den Kampf um Leben und Identität auf dem einsamen Felsen zu einer postmortalen Erfahrung.
Einen Hinweis darauf liefert die erinnerte Begegnung mit Nathaniel – wie in der Bibel auch hier ein Mann, "an dem kein Falsch ist." (Joh 1,47) –, Freund und Gefährte Martins auf See, der eine sehr eigene und selbst an Bord des Kriegsschiffes noch sehr intensive Frömmigkeit pflegt. Dieser weist Martin bei einer Begegnung auf seine Gedanken zu einem anderen Himmel hin: "Die Art von Himmel, die wir erfinden für die Zeit nach dem Tod, wenn wir für den richtigen noch nicht bereit sind."3
Chaos im Boot.
Müllrose, 2017.
In katholischer Diktion geht es also um das Fegefeuer – und genau ein solches ist und wird immer mehr das Erleben des scheinbaren Überlebenden auf dem Felsen. Christopher Headley Martin ist ein Betrüger, Vergewaltiger, Dieb. Kaltherzig und nur auf seinen eigenen Genuss, auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Das ist nicht von Anfang an klar. Zunächst sehen wir nur den armen, halb (bzw. ganz) ertrunkenen Mann, der sich plagt und von Erinnerungsfetzen gejagt wird. Doch Wahn und Realität verschwimmen immer mehr. Auf vielen Seiten drängen, wie vorher die Wasser, nun die Sünden, die Erinnerungen auf ihn ein.
Das Sterben des zweiten Todes ist genauso eine Qual wie das Sterben des ersten Todes. Nathaniel hatte es ihm angekündigt: "Nimm uns, wie wir jetzt sind, und der Himmel wäre die reine Negation. [...] Eine Art schwarzer Blitz, der alles vernichtet, was wir Leben nennen -"4
Und genau dieses surreal-expressive Erleben steht am Ende, lange mutmaßt man noch, dass es sich nur um den Wahnsinn von Hunger, Durst und Einsamkeit handeln könnte, aber dann kommt der schwarze Blitz selbst, das Gericht, das Ende. – "Verästelungen des schwarzen Blitzes hingen am Himmel, Geräusche. Ein Ast wuchs ins Meer hinein, durch die großen Wellen hindurch, hörte auf. Er blieb bestehen. Das Meer erstarrte in seiner Bewegung, wurde Papier, bemaltes Papier, das eine schwarze Linie zerriß. Der Felsen war auf dasselbe Papier gemalt. Die gemalte See war zur Seite geneigt, aber nichts rann abwärts in den schwarzen Spalt, der sich darin aufgetan hatte. Der Spalt war endgültig, war absolut, war dreimal wirklich."5
Martin erlebt sein Bewusstsein selbst als "Zentrum" all seines Erlebens. Doch am Ende der Prüfungen, im letzten Finale wird auch das Zentrum, sein Selbst, seine Identität angegangen.
"Der absolute Blitz breitete sich aus. Kein Geräusch war mehr jetzt, weil Geräusch bedeutungslos geworden war. Keine Musik war mehr, kein Laut vor der schräg geneigten, regungslosen See.
Der Mund plapperte noch eine Weile weiter und geiferte sich dann in Schweigen.
Kein Mund war mehr.
Immer noch widerstand das Zentrum. Es ließ den Blitz sein Handwerk tun gemäß den Gesetzen des Himmels. Es sah auf irgendeine Weise ohne Augen, daß Stücke des Himmels zwischen den Ästen des schwarzen Blitzes ersetzt wurden durch Abgründe von Nichts. Dies machte die Furcht des Zentrums, die Raserei des Zentrums, erbrechen ohne Mund. Es schrie in den Abgrund aus Nichts hinein, stimmlos, wortlos.
'Ich scheiße auf deinen Himmel!'"6
Damit ist das Wesentliche gesagt, was ein Mensch im Sterben auch sagen kann.
Was niemand jemals, so hoffe ich, sagen wird.
Aber es ist die Möglichkeit der Freiheit im Tod.
Der Felsen war in diesem Roman nur der Vorgeschmack auf das Verlöschen.

Dunkler Himmel.
Schlaubetal, 2017.


1   W. Golding, Pincher Martin. Leipzig 1980, 5f.
2   Ebd., 168.
3   Ebd., 147.
4   Ebd., 148.
5   Ebd., 162.
6   Ebd., 162.