1 Kampf im Wasser
Ein Seemann ertrinkt während des
Zweiten Weltkriegs irgendwo inmitten des Atlantiks.
"Er kämpfte nach allen Seiten
zugleich, Mittelpunkt eines sich windenden, um sich schlagenden
Knotens, der sein eigener Körper war. Es gab kein Oben und kein
Unten, nicht Licht noch Luft. Er spürte, wie sich sein Mund
selbsttätig öffnete, hörte, wie das Wort im Schrei herausbrach.
'Hilfe!'
Untergehen. HIddensee, 2017. |
Als die Luft zusammen mit dem Schrei
draußen war, drängte Wasser herein, ihren Platz einzunehmen –
brennendes Wasser, hart in Kehle und Mund wie scharfe kantige Steine.
Er krümmte seinen Körper dorthin, wo Luft gewesen war, aber nun war
sie fort und an ihrer Stelle nichts als schwarzes, erstickendes
Chaos. Sein Körper ließ der Panik freien Lauf, und sein Mund
zwängte sich auf, bis die Kiefergelenke schmerzten. Wasser stieß
hinein, hinab, gnadenlos. Luft kam mit herein für den Bruchteil
einer Sekunde, so daß er sich der vermutlich rettenden Richtung
entgegenkämpfte. Aber das Wasser forderte ihn zurück und drehte
sich im Wirbel, so daß das Wissen um die Stelle, an der Luft sein
mochte, völlig ausgelöscht wurde. [...] Muskeln, Nerven und Blut,
ringende Lungen, eine Maschine im Kopf, sie alle trafen sich zu
episodenhaftem altem Zusammenspiel. Die Klumpen harten Wassers
spülten im Schlund, die Lippen schlossen sich und öffneten sich
wieder, die Zunge wölbte sich, das Hirn ließ eine Bahn aus
Neonlicht aufflammen.
'Mutt-'
Aber der Mensch hing hinter dem
ganzen Aufruhr in der Schwebe, losgelöst von seinem ruckenden,
zuckenden Körper."1
Was für ein Kampf! Was für eine
Sprache für diesen Kampf! Was für eine grausam detaillierte
Schilderung der letzten Zuckungen eines Menschen!
Und im Kampf des Körpers das
menschliche Bewusstsein, das sich an einem bestimmten Punkt von allem
Schmerz und aller Qual entfernt...
2 Purgatorium und Spoiler
Doch es ist nur der erste Todeskampf,
der den Körper genau beobachtet und äußerst nah am Geschehen aus
personaler Sicht aufgeschrieben ist.
Mit William Goldings 1956 erschienenem
Roman "Pincher Martin" liegt ein ganzes Buch als
Todeserfahrung vor dem Leser. Genau genommen handelt es sich
(Spoiler-Alarm!) um die Darstellung zweier Tode.
Das aber erfährt man erst ganz am Ende
des Werkes. Nachdem sich der Seemann Christopher Headley Martin
anscheinend auf einen einsamen Felsen retten konnte, beginnt sein
Kampf ums Überleben, ein Kampf der ihn im Kampf mit der Natur,
seinem Körper und seiner Lebensgeschichte immer näher in Richtung
Wahnsinn treibt. Regelmäßig erinnert er sich daran, wie gut es
gewesen wäre, hätte er im Wasser nicht seine Seestiefel von den
Füßen gezogen. Das letzte Kapitel behandelt, davon ganz losgelöst,
die Bergung des toten Martin, der es nach Aussage der Leichenfinder
noch nicht einmal geschafft habe, "sich die Seestiefel von
den Füßen zu stoßen."2
Diese Aussage dreht das ganze Buch um
und macht den Kampf um Leben und Identität auf dem einsamen Felsen
zu einer postmortalen Erfahrung.
Einen Hinweis darauf liefert die
erinnerte Begegnung mit Nathaniel – wie in der Bibel auch hier ein
Mann, "an dem kein Falsch ist." (Joh 1,47) –,
Freund und Gefährte Martins auf See, der eine sehr eigene und selbst
an Bord des Kriegsschiffes noch sehr intensive Frömmigkeit pflegt.
Dieser weist Martin bei einer Begegnung auf seine Gedanken zu einem
anderen Himmel hin: "Die Art von Himmel, die wir erfinden für
die Zeit nach dem Tod, wenn wir für den richtigen noch nicht bereit
sind."3
Chaos im Boot. Müllrose, 2017. |
In katholischer Diktion geht es also um
das Fegefeuer – und genau ein solches ist und wird immer mehr das
Erleben des scheinbaren Überlebenden auf dem Felsen. Christopher
Headley Martin ist ein Betrüger, Vergewaltiger, Dieb. Kaltherzig und
nur auf seinen eigenen Genuss, auf seinen eigenen Vorteil bedacht.
Das ist nicht von Anfang an klar. Zunächst sehen wir nur den armen,
halb (bzw. ganz) ertrunkenen Mann, der sich plagt und von
Erinnerungsfetzen gejagt wird. Doch Wahn und Realität verschwimmen
immer mehr. Auf vielen Seiten drängen, wie vorher die Wasser, nun
die Sünden, die Erinnerungen auf ihn ein.
Das Sterben des zweiten Todes ist
genauso eine Qual wie das Sterben des ersten Todes. Nathaniel hatte
es ihm angekündigt: "Nimm uns, wie wir jetzt sind, und der
Himmel wäre die reine Negation. [...] Eine Art schwarzer Blitz, der
alles vernichtet, was wir Leben nennen -"4
Und genau dieses surreal-expressive
Erleben steht am Ende, lange mutmaßt man noch, dass es sich nur um
den Wahnsinn von Hunger, Durst und Einsamkeit handeln könnte, aber
dann kommt der schwarze Blitz selbst, das Gericht, das Ende. –
"Verästelungen des schwarzen Blitzes hingen am Himmel,
Geräusche. Ein Ast wuchs ins Meer hinein, durch die großen Wellen
hindurch, hörte auf. Er blieb bestehen. Das Meer erstarrte in seiner
Bewegung, wurde Papier, bemaltes Papier, das eine schwarze Linie
zerriß. Der Felsen war auf dasselbe Papier gemalt. Die gemalte See
war zur Seite geneigt, aber nichts rann abwärts in den schwarzen
Spalt, der sich darin aufgetan hatte. Der Spalt war endgültig, war
absolut, war dreimal wirklich."5
Martin erlebt sein Bewusstsein selbst
als "Zentrum" all seines Erlebens. Doch am Ende der
Prüfungen, im letzten Finale wird auch das Zentrum, sein Selbst,
seine Identität angegangen.
"Der absolute Blitz breitete
sich aus. Kein Geräusch war mehr jetzt, weil Geräusch bedeutungslos
geworden war. Keine Musik war mehr, kein Laut vor der schräg
geneigten, regungslosen See.
Der Mund plapperte noch eine Weile
weiter und geiferte sich dann in Schweigen.
Kein Mund war mehr.
Immer noch widerstand das Zentrum.
Es ließ den Blitz sein Handwerk tun gemäß den Gesetzen des
Himmels. Es sah auf irgendeine Weise ohne Augen, daß Stücke des
Himmels zwischen den Ästen des schwarzen Blitzes ersetzt wurden
durch Abgründe von Nichts. Dies machte die Furcht des Zentrums, die
Raserei des Zentrums, erbrechen ohne Mund. Es schrie in den Abgrund
aus Nichts hinein, stimmlos, wortlos.
'Ich scheiße auf deinen Himmel!'"6
Damit ist das Wesentliche gesagt, was
ein Mensch im Sterben auch sagen kann.
Was niemand jemals, so hoffe ich, sagen
wird.
Aber es ist die Möglichkeit der
Freiheit im Tod.
Der Felsen war in diesem Roman nur der
Vorgeschmack auf das Verlöschen.
Dunkler Himmel. Schlaubetal, 2017. |
1 W.
Golding, Pincher Martin. Leipzig 1980, 5f.
2 Ebd.,
168.
3 Ebd.,
147.
4 Ebd.,
148.
5 Ebd.,
162.
6 Ebd.,
162.