Mittwoch, 14. März 2018

Lebensvermehrung, Stabilität, Aushalten. Tagungsgedanken zur "Kirche im Justizvollzug"

Von Berlin aus war es eine weite Reise bis an den Rand des Taunus, um zur Tagung "Kirche im Justizvollzug" zu gelangen. Für mein Befinden ist auch die innere Reise weit: aus dem pastoralen Alltag im Gefängnis zur Begegnung und zum Austausch mit anderen SeelsorgerInnen, die im deutschen (und österreichischen) Justizvollzug arbeiten.
Denn das alltägliche Geschäft der Gefängnisseelsorge mit seinen Gipfeln, Hängen und Klippen mache ich doch größtenteils mit mir selbst aus, während es in diesen Tagen zu neuen Anregungen kommt und gemeinsame Reflexion meinen Horizont erweitert.
Ein theoretischer und zwei eher praktisch orientierte Gedanken, die ich mitnehme und mir der Einfachheit halber hier aufschreibe.

JVA Plötzensee, außen. Berlin, 2017.
1
Am Dienstag hielt der emeritierte Pastoraltheologe Heribert Wahl einen Vortrag über Seelsorge als "Heilsame Begegnung". Um die Beziehung zwischen einem Selbst und seinem Gegenüber, beispielsweise Kind und Mutter, aber auch Seelsorger und Klient zu beschreiben, nutzt er ein Modell mit zwei Polen. Dem "Selbst-Pol" gegenüber braucht es nach H. Wahl einen empathisch-verlässlichen "Lebensmehrenden Pol", an dem der Selbst-Pol wachsen kann, denn eine solch tragende Beziehung ist die Basis der Selbstwerdung. Darum bezeichnet Wahl den zweiten Pol auch als "lifegiver".
Damit diese Funktion innerhalb des Beziehungsgefüges aber gut ausgefüllt werden kann, ist für professionelle Gegenüber ein methodisch geschultes empathisches Eingehen notwendig, das sich weder im Hilfesuchenden und seinen Problemen verliert, noch ihn mit eigenen Vorstellungen und Gedanken besetzt. Auf diese Weise kann die Beziehung – und besonders der Selbst-Pol – wachsen und sich dynamisch weiterentwickeln.
Zugleich ist die Beziehung eine gegenseitige, die auch den Lebensmehrenden Pol prägt und je nach konkreter Ausgestaltung der Beziehung mit ihren jeweiligen Ansprüchen mitbestimmt.
Das in dieser Beziehung wachsende Selbst soll letztendlich befähigt werden, selbst ein lifegiver für andere zu werden. Zugleich bleibt jedes Subjekt lebenslang auf Beziehung angewiesen, das Streben nach völliger Autonomie ist nach diesem Modell eine Illusion (und entspricht davon abgesehen nicht dem christlichen Menschenbild).
Soweit kurzgefasst Heribert Wahls Ausführungen.

Für den Alltag im Gefängnis muss konstatiert werden, dass die Seelsorgerin oder der Seelsorger für manche Inhaftierte zum ersten verlässlichen Gegenüber werden kann, der wirklich und gewollt lebensmehrend in das jeweilige Leben tritt. Die daraus entstehende "heilsame Begegnung" ist dann so ungewohnt, dass häufig Irritationen auftreten. Auch kann nicht jeder Entwicklungsschritt nachgeholt werden.
Aber lebensmehrendes Handeln im Kontext eines tendenziell lebensfeindlichen Umfeldes ist eine eindeutige christliche Aufgabe, der wir uns stellen sollten.

2
Konkreter wurde es im heutigen Workshop zu Problemen in seelsorglichen Gesprächen.
Ein Thema waren als sinnlos empfundenen Gespräche mit Gefangenen, etwa wenn jemand regelmäßig Belanglosigkeiten seines Haftalltags vorträgt, wenn sich bestimmte Erzählungen beständig wiederholen oder der Fernsehkonsum zum bestimmenden Inhalt eines Gesprächs wird.

Unser aller Erfahrung mit solchen Gesprächen, die vom Gefangenen ja gesucht und maßgeblich gestaltet wurden (auch gegen unsere Interventionen), führten zunächst zu Irritation und Enttäuschung. Sind wir nicht angetreten, um mehr zu tun, tiefer zu gehen, echte Probleme zu lösen und Trost durch den Glauben zu vermitteln?

Ein Bild zum Thema Verlässlichkeit.
Richardplatz, Neukölln, Berlin, 2017.
Vor dem Hintergrund des Vortrags aber wurde uns im Gespräch klarer, dass es vielleicht gerade jene verlässliche Beziehung ist, die der Inhaftierte zunächst einmal braucht. Vielleicht sucht er einfach den Kontakt mit einem Menschen, der ihn nicht bewerten oder manipulieren will. Vielleicht ist das stundenlange Wälzen von kleinen Alltäglichkeiten ein langsames Herantasten an das Vertrauen in uns, sein Gegenüber.
Darum wäre es wichtig, den Inhaftierten ernst zu nehmen und ihm zu zeigen, was den wenigsten Gefangenen entgegengebracht wird: unverzwecktes Interesse und Wertschätzung seiner Person.
Schon das ist eine Verkündigung des liebevoll zugewandten Gottes, als dessen lifegiver wir ja bestellt sind.

Im Kontakt mit Menschen, die nicht nur Täter von Straftaten, sondern auch Opfer ihrer Sozialisation sind, ist ein grundlegender Schritt in die Beziehung die Kontinuität und Stabilität. Dies sind Erfahrungen, die im bisherigen Sozialgefüge vieler Inhaftierter oftmals keine Rolle gespielt haben.

Das heißt praktisch, dass ich als Seelsorger die Inhaftierten idealerweise nicht wie viele andere wieder und wieder vertröste oder gar nicht mehr auftauche oder eben ihren Gesprächsbedarf nicht ernst nehme, sondern dableibe und zuhöre – auch wenn es bisweilen schwerfällt.
Soll die seelsorgliche Beziehung zur Lebensvermehrung führen, dann braucht es von der Seite des Seelsorgers in erster Linie Verlässlichkeit.
Dadurch drückt sich aus, dass ich mein Gegenüber in seiner Würde als Person ernst nehme. Selbst dann, wenn es "nur" um die geht.

3
In manchen Gespräche macht sich eine ansteckende Hoffnungslosigkeit breit – angesichts völlig weggebrochener Außenkontakte, fehlender Unterstützung, mangelnder Ausbildung, Drogensucht oder lebenslänglicher Haft.
Billigen Trost und fromme Sprüche will kein Seelsorger anbieten. Praktische Hilfen sind oftmals nicht möglich. Was bleibt dann noch außer Resignation?

Ich selbst habe erlebt, dass mich ein intensives Gespräch, in dem mir der Inhaftierter vom jahrelangen Missbrauch an ihm, schwersten Straftaten von ihm und seiner schweren Krankheit in Verbindung mit regelmäßigen Alpträumen und Angstzuständen berichtete, zunächst einigermaßen ratlos zurückließ. 

Immer nur abwärts?
Dresden, 2018.
Meine Antwortversuche blieben mager, wir waren uns einig, dass die Rede von einem guten Gott hier ein Hohn wäre, Sinn in diesem Leid nicht einfachhin zu finden sei – und trotzdem betete ich am Ende für den Inhaftierten und er bedankte sich ehrlich für das aufbauende Gespräch.
Angesichts der bleibend schrecklichen Sachlage verwunderlich.

Denn es bleibt unbefriedigend. Wir können das Leiden unserer Gesprächspartner oft nicht wegnehmen. Aber schon das solidarische Mit-Aushalten, das Hören und die Ehrlichkeit können tröstend und lebensvermehrend sein. Die entstandene Beziehung machts!

Ich werde mich in solchen deprimierenden Situationen zukünftig eher einmal fragen: Was kann Hoffnung für diesen Menschen heißen? In seiner misslichen Situation? In seiner Perspektivlosigkeit?
Vielleicht ist es die Aussicht auf ein verlässlich wieder zu Besuch kommendes Gegenüber.

Viele andere Themen wurden angesprochen, aber diese wollte ich gern hier festhalten.