Samstag, 3. März 2018

Zentrumsverschiebung und Doppelpassion – Predigt zur Tempelreinigung Joh 2,13-25

Das Johannesevangelium macht es seiner Hörer- und Leserschaft nicht leicht. Genau genommen ist es ziemlich unverschämt, wie viele verschiedene Gedanken da in einer kurzen Textstelle zusammengepfercht und uns hingeworfen werden.
Im heutigen Abschnitt (Joh 2,13-25) ist die Rede vom Tempel und seinem Abriss, von einem wütenden Jesus, seinem Tod und seiner Auferstehung, von raffgierigen Händlern und argwöhnischen Kritikern, vom "Menschen" allgemein und von "den Juden" im besonderen.

Um hier etwas mehr Verstehen zu ermöglichen, möchte ich ein paar Verständnisschneisen schlagen, damit klar wird, worum es eigentlicht geht.

Ruinen im Herzen der Stadt.
Altstadt von Jerusalem, 2013.
1. Ein neues Zentrum
Das Zentrum der jüdischen Religiosität war zur Zeit Jesu noch der Tempel in Jerusalem. Dorthin pilgerten alle frommen Juden, die in Israel lebten, mindestens einmal im Jahr zum Paschafest. Aber auch damals gab es schon Juden, die in der Diaspora, also außerhalb ihrer religiösen Heimat Israel lebten. Für diese war das religiöse Zentrum schon nicht mehr der Opferkult des Tempels, den sie ohne monatelangen Reiseaufwand nicht mehr vollziehen konnten, sondern ihr Zentrum war die Heilige Schrift – und in der Schrift der Dekalog, den wir in der ersten Lesung gehört haben.

Das Johannesevangelium wurde um 100 nach Christus geschrieben. Zu dieser Zeit aber gab es den Tempel gar nicht mehr! Wenn im Evangelium also vom Tempel die Rede ist und Jesus dieses Zentrum seiner Religion wieder anständig behandelt wissen will, dann wissen die ersten Hörer dieser Geschichte doch, ebenso wie der Autor und wir, dass Jerusalem und der Tempel im Jahre 70 nach Christus von den Römern zerstört wurden.
Jesus verteidigt also im Evangelium einen religiösen Ort, von dem die Hörer wissen, dass er nicht mehr existiert.

Und so fügt der Evangelist Johannes eine eigene Erklärung der Tempelreinigung Jesu ein, die sich in den Geschichten von der Tempelreinigung in den anderen Evangelien nicht findet.
Bei Johannes stellt Jesus sich selbst als das Zentrum dar.
Er antwortet auf die Frage, was sein Angriff auf die Händler und Geldwechsler denn solle: "Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten" (v19) und für uns Begriffsstutzige wird erklärt, damit "meinte [er] den Tempel seines Leibes" (v21).
Jesus selbst ist also nach diesem Text das neue Zentrum der Gottesverehrung. Sein Leib ist der neue Tempel, er ist das bessere "Nachfolgemodell" des alten Gebäudes.
Es geht gar nicht mehr um irgendein altes Gemäuer, sondern um Jesus.

Das kann sich die Kirche (und jede andere Religion) ja auch einmal fragen: Ob Gebäude und Bücher und Privilegien und sonstwas wichtig sind oder ob Jesus selbst im Zentrum steht.
Und überhaupt: Wie kommen die Kirchen mit der Verschiebung des Zentrums in der Lebenswirklichkeit heutiger Menschen zurecht? Religion spielt nicht mehr die Hauptrolle – wie kann man damit umgehen, dass dies so ist?

Was wir für uns persönlich aus dieser ersten Schneise mitnehmen können, ist die Frage: Was ist das Zentrum meines Lebens? Hat sich das vielleicht auch schon einmal geändert, zum Beispiel als ich in Haft gekommen bin? Oder blieb mein Zentrum unverändert? Letztlich ist es die alte Frage: Worum dreht sich mein Leben?

Undeutlich, aber unverkennbar.
Kreuz an der Grabeskirche,
Altstadt von Jerusalem, 2013.
2. Eine doppelte Passion
Für Jesus drehte sich alles um Gott. Die Ehre Gottes, so könnte man sagen, war seine Passion. Es regt ihn furchtbar auf, wenn sie mit Füßen getreten wird. 
Und der Begriff "Passion" hat auch in unserem Wortverständnis zwei Bedeutungen:
Einmal ist die Passion eine Leidenschaft für etwas. Wenn jemand ein passionierter Raucher ist, dann geht es eben nicht ohne. Oder nehmen Sie sonst ein passendes Beispiel. Die Jünger jedenfalls erinnern sich beim Anblick Jesu an ein biblisches Wort: "Der Eifer für dein Haus verzehrt mich" (Ps 69,10) Diese Bedeutung von Passion kommt im ersten Teil unseres Textes, bei Jesu Wutausbruch, zum Tragen.

Aber "Passion" heißt auch Leiden. Wir befinden uns in der Passionszeit (oder Fastenzeit) und erinnern uns besonders an das Leiden Jesu. Diese Bedeutung kommt eher im zweiten Teil zum Tragen, wenn Jesus seine Kritiker ja geradezu einlädt, ihm Gewalt anzutun, damit sich Gottes Handeln (in der Wiedererrichtung seines Leibtempels) an ihm zeigen kann.

Beides hat natürlich einen inneren Zusammenhang:
Es ist auch diese radikale Leidenschaft Jesu für die Ehre Gottes, die dazu führt, dass sich einige Gruppierungen der Juden rasch in Opposition zu ihm begeben und ihm am Ende tatsächlich Leid antun, indem sie ihn an die Römer ausliefern. Die Ablehnung Jesu, die erst am Ende seines Lebens zum brutalen Ausbruch kommt, wird schon hier (am Anfang des Johannesevangeliums) deutlich.

Ein Beispiel aus dem letzten Jahr kann diese Dynamik veranschaulichen. 2017 hat der us-amerikanische Jesuit James Martin ein Buch zum Verhältnis zwischen Homosexuellen und katholischer Kirche geschrieben, und das ist ein wirklich spannungsreiches Verhältnis, wie sich jeder vorstellen kann. Er möchte, dass eine von Respekt, Mitgefühl und Achtsamkeit geprägte Kultur entsteht, in der Homosexuelle und ihre Angehörigen und Freunde sich innerhalb der Kirche gesehen und wertgeschätzt fühlen. Die Leidenschaft, mit der James Martin sich in dieser Sache engagiert, ist konträr zur Gleichgültigkeit vieler US-Bischöfe angesichts des Massakers in dem Club in Orlando, Florida, das zur Abfassung des Buches geführt hat. In der Folge hat Martin nicht nur viel Zustimmung und Unterstützung erfahren, sondern auch eine Menge erleiden müssen: Auf Druck konservativer Gruppen wurde er von Hochschulveranstaltungen wieder ausgeladen, einige kirchliche Würdenträger meiden ihn, von der Hetze im Internet ganz zu schweigen.

Ich möchte James Martin hier nicht mit Jesus vergleichen, aber ich glaube, das Beispiel veranschaulicht gut, wie jemand mit einer Passion-Leidenschaft sich oftmals auch auf Passion-Leiden einstellen muss.

Für uns könnte sich daran die Frage anschließen, für welche Überzeugungen wir denn brennen, wofür wir einen hohen Einsatz bringen und was uns dann vielleicht Leiden verursacht.
Und bis zu welchem Grad wir überhaupt bereit für dieses Leiden sind – oder ob wir dem Leiden lieber ausweichen...

3. Richtig erinnern
An zwei Stellen kommt die Formulierung vor, dass sich die Jünger erinnerten. Nach dem Gewaltausbruch Jesu fällt ihnen das schon genannte Psalmwort vom Eifer für das Haus Gottes ein. Und in einem literarischen Zeitsprung in die Zeit nach Jesu Kreuzigung und Auferstehung wird ihnen bei der Rede vom Tempelabriss rückblickend klar, dass er eben von seinem eigenen Schicksal gesprochen haben musste.
Erinnern an was?
Musimische Graffiti, Altstadt von Jerusalem, 2013.
Das richtige Assoziieren und Erinnern also führt die Menschen zum Glauben.

Aber bevor ich das kurz ausführe, muss ehrlicherweise gesagt werden, dass die konkrete Erinnerung an dieses Ereignis etwas an den Haaren herbeigezogen sein muss.
Denn all der Handel und Geldwechsel fand gar nicht im Tempel selbst statt, sondern im so genannten "Vorhof der Heiden". Dort waren, wie der Name sagt, im Gegensatz zum Inneren des Tempels, auch Nichtjuden zugelassen und die religiöse Sphäre mithin gar nicht so sehr in Gefahr. Man hätte sich also gar nicht so aufregen müssen.
Dazu kommt, dass der Geldwechsel einen ebenso religiösen Grund hatte. Die jüdischen Frommen wollten das Portrait des Kaisers, das auf den römischen Münzen abgebildet war, nicht im Tempel haben, wenn Spenden gebracht wurden. Deshalb mussten diese Münzen mit dem Abbild des Gottkaisers in andere Münzen umgewechselt werden.
Es ging dabei also gerade darum, den heiligen Ort und die religiösen Gefühle der Gläubigen zu schützen. Doch Jesus regt sich anscheinend darüber auf.

Wenn wir heute historisch-kritisch auch daran erinnern und uns in der Folge wundern, was da eigentlich los war, dann ist es ein anderes Erinnern als der Evangelist Johannes im Sinn hat.
Ihm geht es darum, dass Menschen zum Glauben kommen und sein Evangelium ist darauf ausgerichtet und nur aus diesem Grund geschrieben, um den Glauben an den Gottessohn Jesus Christus zu wecken.
Der ist so souverän, dass er, wie der letzte Vers sagt, nicht nur für die Ehre Gottes brennt, sondern auch weiß, was im Menschen ist (v24f).

Und der Evangelist führt durch sein spezielles Erinnern und durch seine Hinweise auf die Erinnerung der Jünger immer wieder zum Kern des christlichen Glaubens. Auch hier ist ihm mitten in der Schilderung des Disputs mit den nicht zum Glauben gekommenen Juden wichtig, dass die Jünger (und mit ihnen die späteren Hörer und Leser) einen Hinweis auf die Auferstehung entdecken können.

In der Fastenzeit als Zeit der Vorbereitung auf Ostern sind wir gut beraten, uns immer wieder an das letzte Ziel dieser Zeit zu erinnern: Die Auferstehung Jesu, die wir jeden Sonntag feiern.
Sie ist der Kern der christlichen Botschaft und soll der Kern unseres Lebens werden. Auch wenn unser Leben uns insgesamt vielleicht manchmal als sehr fastenzeitlich erscheint.

Die Aufgabe, die sich uns also im Anschluss an diese Gedanken stellt ist klar: Im Erinnern unseres eigenen Lebensweges, und sei er noch so schwer, jene Punkte nicht aus dem Blick zu verlieren, die auf Heil und Auferstehung hoffen lassen.

***

Mit diesen drei Schneisen hoffe ich ein paar Verstehenshilfen für diesen Text gegeben zu haben:
Verschiebung des Zentrums – Was ist das Zentrum meines Lebens?
Doppelte Passion – Wofür brenne ich, wofür bin ich bereit zu leiden?
Richtig erinnern – Wo gibt es in meinem Leben Hinweise auf Auferstehung?

Erinnern in Yad Vashem.
Jerusalem, 2013.