Samstag, 28. April 2018

"feeling so connected" – Die Bildrede vom Weinstock (Joh 15)

Es gibt einen Song von Peter Gabriel, "More than this", in dem eine Art mystischer Begegnung besungen wird. Ein Mann erwacht in der Frühe, geht aus dem Haus und läuft so lange er kann. Dann sieht er Bewegung in der Luft. Und da steht er, alles, was er hatte, ist fort und sogar noch mehr, dann steht er still und spürt, fühlt sich verbunden.

...there is something else there
when all that you had has all gone
and more than this
i stand
feeling so connected
and i'm all there
right next to you
...

(Peter Gabriel, More than this)1

Ich kenne die Religiosität von Peter Gabriel nicht, aber das Gefühl, nicht allein zu sein und sich mit etwas oder jemandem Größeres verbunden zu fühlen, ist eine urreligiöse innere Bewegung.

Weinstock, kahl.
St. Josef, Rudow, Berlin, 2018.
Auch das Evangelium, das wir eben gehört haben (Joh 15,1-8), zeigt das sehr deutlich. Es geht um die innere Verbindung mit Gott, genauer mit Christus. Das Hauptthema des Bildes vom Weinstock, als den Jesus sich bezeichnet, ist die "connectedness", dieses Gefühl der Verbundenheit, von dem auch Peter Gabriel singt.

1
Das meint in erster Linie, dass wir in einer Beziehung stehen. Nicht allein oder isoliert unser Leben leben müssen, sondern gemeinschaftlich. Einerseits mit Christus, andererseits aber auch mit allen anderen Menschen verbunden.
Das bedeutet einen gewissen Gegensatz zu starken Idealen unserer heutigen Gesellschaft. Dort geht es oftmals um die Ausrichtung auf Individualität und Autonomie. Sich abzusetzen von den als unfrei empfundenen Bedingungen der Herkunft und den Vorstellungen aller möglichen Gemeinschaften, in die man hineingestellt ist, wird als erstrebenswert angesehen. Dementsprechend sind Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit Wünsche, die viele Menschen (und so auch mich) oftmals bewegen.
Hier würde natürlich der Song über Major Tom "Völlig losgelöst" passen: "völlig losgelöst, von der Erde schwebt das Raumschiff, völlig schwerelos", allein und ohne weitere Verbindung zu seinem Grund.

So berechtigt die Emanzipation des Individuums von manchem Gruppendruck oftmals ist, Jesus entwirft hier ein anderes Ideal: Ihm geht es um den bleibenden Kontakt mit ihm.
Letztlich dreht sich in diesem Weinstockbild alles um Beziehung.
Unsere Kraft ziehen wir nach diesem Bild nicht aus uns selbst, sondern aus den Wurzeln des Weinstocks, wir sind als Christen eingebettet in eine Gemeinschaft mit Christus, die uns trägt.
Das kann eine ungeheure religiöse Entlastung sein, wenn ich weiß: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Röm 11,18)
Bestimmend ist nicht der Wunsch nach Unabhängigkeit, sondern die Fähigkeit, in Beziehung zu stehen.

Ob man das nun fühlt, wie Peter Gabriel singt, ist nicht entscheidend, auch wenn es sicher hilft. Aber in dem Vertrauen zu leben, das wir unser Leben nicht leisten müssen, sondern dass Gott es mit uns lebt, ist schon viel. Das ist die wahre Herausforderung unseres Lebens: die Verbindung zu Gott nicht abzubrechen und dadurch zu verdorren (vgl. v6).

Nebenbemerkung zum Thema Gefängnis und Resozialisierung: Wenn ich die Ziele des Vollzugs richtig verstehe, handelt es sich um eine realistische Mischung dieser beiden Idealvorstellungen – das eigene Leben mit Arbeit, Wohnung, Geld, Behörden selbstständig auf die Reihe zu kriegen, ist eine gute Voraussetzung, um künftig straffrei zu leben. Aber auch soziale Kontakte und die Einbindung in ein stabiles familiäres oder freundschaftliches Umfeld sind wichtig, um gut durch die Zeit kurz nach der Haftentlassung zu gehen. Für ein gutes Leben gehören gesunde Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit und Beziehung, Kontakte, vertrauensvolle Freundschaften zusammen.
Trotzdem, der erste Punkt lautet kurz: Jesus lädt ein, in Beziehung mit ihm zu sein und zu bleiben.

Verbundenheit, schmutzig.
Neukölln, Berlin, 2018.
2
In seinem letzten Schreiben "Gaudete et Exsultate"2 über den Ruf zur Heiligkeit heute, das am 08. diesen Monats herausgegeben wurde, betont auch Papst Franziskus die Wichtigkeit der Beziehung.
Dem Papst geht es in diesem Schreiben in erster Linie um eine Ermutigung. Er will, so komisch das klingen mag, dazu ermutigen, heilig zu leben und das bedeutet auch, zuzulassen, "dass alles für Gott offen ist" (GE, 15).
Denn eine gefährliche Versuchung sei, so schreibt er, "zu meinen, dass die Heiligkeit nur denen vorbehalten sei, die die Möglichkeit haben, sich von den gewöhnlichen Beschäftigungen fernzuhalten, um viel Zeit dem Gebet zu widmen. Es ist aber nicht so. Wir sind alle berufen, heilig zu sein, indem wir in der Liebe leben und im täglichen Tun unser persönliches Zeugnis ablegen, jeder an dem Platz, an dem er sich befindet." (GE, 14)
Nein, Heiligkeit fängt klein an und "wächst durch kleine Gesten" (GE, 16), die sich im Alltag auch als gut für andere erweisen.
Denn vor allem gilt: Heilige sind keine Einzelkämpfer.

Wenn jemand als Heiliger lebt, dann gehört dazu nicht nur die Verbundenheit mit Gott, sondern auch die Verbundenheit mit den anderen Menschen. "Deshalb kann sich niemand allein, als isoliertes Individuum, retten, sondern Gott zieht uns an, wobei er das komplexe Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen berücksichtigt, das der menschlichen Gemeinschaft innewohnt: Gott wollte in eine soziale Dynamik eintreten" (GE, 6)

Auch das ist es, was das Bild vom Weinstock ausdrücken will. Die Reben sind viele, sie sind nicht alle gleich, manche müssen gereinigt werden, andere bringen vielleicht große Trauben.
Und: Einer allein kann selten viel ereichen. Wein entsteht nicht durch den Saft einer einzigen Rebe, sondern durch viele reife Früchte an den Reben.

Der zweite Punkt lautet also kurz: Auch in unserer menschlichen Wirklichkeit, die hoffentlich immer heiligmäßiger wird, sind wir aufgefordert und ermutigt, immer mehr miteinander verbunden zu leben.

3
Und damit sind wir beim Thema der Frucht.
Worum geht es Jesus, wenn er vom Fruchtbringen spricht?
Er wählt das Bild des Weinstocks und damit steht als "Frucht" eben der Wein im Raum. Wein verbindet sich mit Freude, mit Fest, mit Rausch. Das verspricht Jesus! Um aber Wein trinken zu können, ist eine Menge Arbeit und viel Geduld nötig.
Das meint die Rede vom "Bleiben", die sich durch den Text zieht. Es ist "das geduldige Standhalten in der Gemeinschaft mit dem Herrn durch alle Wirrnisse des Lebens hindurch",3 das Jesus hier wichtig ist.
Wenn er also sagt, dass wir in ihm bleiben und Frucht bringen sollen, meint er, dass wir dranbleiben sollen. Nicht aufgeben. Nicht aufhören. Immer wieder probieren. Auch wenn wir nicht solche Erfahrungen haben, wenn wir nicht die "connectedness" spüren, wie im Song am Anfang beschrieben, dann sollen wir trotzdem dranbleiben.

Und um die Worte des Songs noch einmal aufzunehmen: "feeling so connected" mit Jesus kann nur heißen, in Liebe verbunden zu sein. Das ist die Kraft, durch die der Weinstock Jesu wächst und Früchte bringt: Liebe.
Und jeder, der schon einmal geliebt hat, weiß: Nur so kann richtige Liebe wachsen, durch treues und geduldiges Dranbleiben. Dann schenkt sie wahre Freude, Rausch und Seligkeit.

Der dritte Punkt lautet also kurz: Der Wein, den Jesus verspricht, ist die Freude wahrer Liebe, der in Geduld und Beharrlichkeit reift.

Und genau diese Freude wünsche ich Ihnen: Dass Sie dranbleiben können und in der Liebe wachsen.

Das ist eine Frucht nicht nur für eine Person allein, sondern für die ganze Welt. 

Liebe, freigesetzt.
Rudow, Berlin, 2018.





3   J. Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Freiburg i.Br. 2007, 306.