Mittwoch, 18. April 2018

Neues von Tieren und Menschen und Gott. Texte von J.M. Coetzee und Monika Maron

Menschen und Tiere haben mehr gemeinsam, als viele von uns, besonders von uns Fleischessern, wahrhaben wollen.
Zugleich sind sie nach christlicher Überlieferung stark voneinander unterschieden, ist der Mensch bestimmt, über das Reich der Tiere und Pflanzen zu herrschen (vgl. Gen 1,26.28).
Diese beiden Meinungen müssen sich nicht ausschließen. Aber Menschen, die eine dieser Meinungen vertreten, neigen dazu, die Unhaltbarkeit der je anderen Meinung zu betonen. Oder sie wenigstens nicht mehr hören zu müssen.
Hinter diesen Meinungen verbirgt sich auch die umfassendere Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt, nach seiner Würde und seiner Aufgabe.

Zwei aktuelle Romane bieten für beide Meinungen prägnante Texte an.

Einbeinigkeit schützt vor Fehlern nicht.
Venedig, 2012.
In Monika Marons Buch "Munin oder Chaos im Kopf" unterhält sich die Protagonisten Mina Wolf mit einer einbeinigen Krähe. Ihr philosophisch-theologischer Disput bringt die skeptische Ich-Erzählerin zunehmend ins Grübeln. Nicht nur, dass die (nach einer von Odins geflügelten Begleiterinnen benannten) Krähe Munin ständig die Frage nach Gott stellt und die Irrationalität der Menschen in bezug auf deren Gottesvorstellungen herausstreicht, sondern dass sie, die Krähe, sich schließlich selbst als Gott ausgibt, bringt die menschliche Hauptperson zunehmend ins Wanken.

Darüber hinaus schilt die Krähe die Menschheit, weil sie die Tiere geringschätzt und nicht mehr als Götter verehrt. Selbst die als Mischwesen aus Mensch und Tier vorgestellten Götter hätten doch mehr Potential geboten als ein Gott, als dessen Ebenbild sich die Menschen nun aufspielen. Darauf antwortet die religionsferne Ich-Erzählerin:

"Ach, ... das Lachen vergeht uns gerade, seit sie das Genom entschlüsselt haben und wir wissen, dass sogar die Maus und der Mensch zu neunundneunzig Prozent genetisch übereinstimmen. Besonders für die Gottgläubigen muss das ein Schock sein. Denn wenn der Mensch Gottes Ebenbild ist, dann müsste ja auch Gott zu neunundneunzig Prozent eine Maus sein oder ein Affe oder sogar ein Biber. Dann ist alles Gott."1

Trotz der Fragwürdigkeit dieser Logik stellt sich doch tatsächlich die Frage, was es mit dem Gottesbild macht, wenn Tier und Mensch so sehr zusammenrücken, dass eine Höherstellung des Menschen nicht mehr erkennbar ist. Wird die Tier-Mensch-Gott-Linie als biologistischer Zusammenhang gedacht, gibt es keine Möglichkeit, Gott als den je Größeren und den Menschen als Hüter der Schöpfung anzusehen.

Auch in J.M. Coetzees neuem Roman "Die Schulzeit Jesu" gibt es einen Charakter, der den Vergleich zwischen Menschen- und Tierreich zieht. Der wegen Mordes Angeklagte wehrt sich gegen die angebotene Barmherzigkeit des Gerichts mit folgenden knallharten Sätzen:

"Wenn der Fuchs die Gans bei der Kehle gepackt hat, ... dann sagt er nicht: 'Liebe Gans, als Zeichen meiner Gnade gebe ich dir die Chance, mich davon zu überzeugen, dass du am Ende gar keine Gans bist.' Nein, er beißt ihr den Kopf ab und reißt ihr die Brust auf und frisst ihr Herz. Sie haben mich bei der Kehle. Los, beißen Sie mir den Kopf ab!"2

Der Angeklagte scheint so überzeugt von seiner Schuld und der daraus folgenden legitimen Bestrafung zu sein, dass er jegliches weitere Reden und Abwägen ablehnt, sogar das Differenzieren und die Suche nach Entlastungsgründen nicht gelten lassen will. Sein Credo lautet: Fressen muss ohne Rücksicht stattfinden. Die Eindeutigkeit lässt keine Abwägungsstufen zu. Das Tierreich ist mörderisch, daran sollte der Mensch sich orientieren.

Bei Marons Protagonistin spricht für eine solche Maxime die Geschichte der Menschheit, die nicht erzählt werden könne, "ohne auch von Kriegen und vom Morden zu sprechen."3 Die logische Konsequenz dieses Gedankens formuliert später unmissverständlich die Krähe: "Sterben lassen, was nicht leben kann."4
Das sei für sie das einzig Richtige, Humanität und Hilfe gegenüber den Schwachen dagegen seien auf Dauer nicht leistbar.
Gleichheit im Tod
Wächserne Falterfalle in Binz, 2016.
"Ihr seid Tiere." erwidert die Frau. "Ihr auch." kontert die Krähe,5 woraufhin sich die Frau auf Vernunft und Verstand als Alleinstellungsmerkmal des Menschlichen zurückziehen will.
Angesichts des zuvor erwähnten kriegerischen Schlachtens in den unzähligen Kriegen von Menschen gegen Menschen kann dieses Argument natürlich nicht überzeugen.
Und eine andere Antwort bietet der Roman auch nicht.

Die hergestellte Verbindung von Tier und Mensch und Gott ist hier letztlich ein Hinunterziehen aller Wesen auf die Ebene des Tierischen. Das ist nicht nur das abslute Gegenbild zum christlichen Gottesbild. Es ist zugleich auch eine apokalyptisch beunruhigende Perspektive für den Menschen.

Ähnlich scheint es sich beim Angeklagten in Coetzees Roman zu verhalten.
Anders aber lautet die Antwort des Richters auf den Vergleich des Angeklagten:

"Sie sind kein Tier ... und wir sind auch keine Tiere. Sie sind ein Mensch und wir sind Menschen, betraut mit der Aufgabe, Gerechtigkeit herzustellen, oder zumindestens eine Annäherung an Gerechtigkeit."6

So also wird eine Unterscheidung markiert. Das Suchen nach Gerechtigkeit ist eine Aufgabe, die den Menschen ausmacht und auch wenn er geschichtlich immer wieder schrecklich scheitert, so hat er doch die Möglichkeit, den Instinkt zuzubeißen zu überwinden und, indem er einen Schritt zurücktritt, eine andere Entscheidung zu treffen. Ob dies immer zu Gerechtigkeit führt, sei zunächst einmal dahingestellt. Und auch, ob diese reflektierende Distanz schon gleich mit Vernunft gleichzusetzen ist, wird damit noch nicht gesagt.

Aber es offenbart sich hier eine nach christlicher Auffassung göttliche Eigenschaft im Menschen. Denn auch wenn irdische Gerechtigkeit nie erreichbar sein wird, so vollendet Gott doch das, was im Leben auf der Erde unvollendet geblieben ist, in Gericht und Auferstehung. Die Hoffnung auf letzte Gerechtigkeit jedenfalls ist nach Kants praktischer Vernunft der Angelpunkt des Auferstehungsglaubens. Der Berliner Philosoph Holm Tetens hat dies vor einiger Zeit noch einmal betont, wenn er die richtige Einstellung "zu den ungetrösteten Opfern der Weltgeschichte"7 anmahnt, die selbst nur in einer postmortalen Wirklichkeit Gerechtigkeit erfahren könnten. Dann aber kann Gerechtigkeit nur als göttliche Erlösung gedacht werden.

Wo Menschen das Streben nach Gerechtigkeit als ihre Aufgabe wahrnehmen und nicht zuletzt auch auf ihre Mitgeschöpfe, die Tiere anwenden, dort erweisen sie sich als Ebenbilder Gottes.

In Coetzees Roman tut das der Junge David, die Jesusgestalt des Autors. Er sorgt sich nicht nur um eingeschläferte Hunde, sondern will auch die von anderen Kindern im brutalen Spiel verletzte Ente retten. 
Das gelingt ihm zwar nicht – aber seine kindliche Zuneigung und sein Wille, Heilung und Rettung zu ermöglichen, machen ihn zur wahrhaft menschlichen Gestalt des Romans und zum Ebenbild Gottes.

Ausgleichende Gerechtigkeit.
Neukölln, Berlin, 2018.

1   M. Maron, Munin oder Chaos im Kopf. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2018, 221.
2   J.M. Coetzee, Die Schulzeit Jesu. Frankfurt a.M. 2018, 183f.
3   M. Maron, a.a.O., 59.
4   Ebd., 114.
5   Ebd.
6   J.M. Coetzee, a.a.O., 184.
7   Auferstehung der Toten, Gericht, Vergebung. Ein Interview mit dem Philosophen Holm Tetens. In: Herder Korrespondenz, 1/2017, 18-22, hier: 21. Ferner führt Tetens dort aus: "Es wäre eine merkwürdige Verhöhnung der Opfer, würde das Erlösungsgeschehen über die in dieser Welt geschehenen Verbrechen sozusagen schweigend hinweggehen. Es braucht also so etwas wie ein Gericht." (Ebd., 20.)