Samstag, 12. Mai 2018

Gott ist weg – was nun? Eine Gemeindepredigt.

Gott ist weg.
Das ist die Situation, in der sich die Jünger zwischen Himmelfahrt und Pfingsten befunden haben.
Ich weiß nicht, ob Sie sich in die Lage hineinversetzen können, in der sich die Jünger befunden haben müssen, nachdem Jesus zuerst verhaftet wurde, dann am Kreuz gestorben war und schließlich zu Himmelfahrt gänzlich verschwand.
Der Lebensmittelpunkt der Jünger war damit verschwunden. Monate- oder sogar jahrelang waren sie mit Jesus durch Galiläa und Judäa gelaufen, hatten dafür ihre Familien verlassen und sich ganz auf dieses neue Leben des Messias eingestellt. Und nun ist er weg, auf den Schock seines Todes folgte zunächst der Schock seiner Auferstehung, aber selbst darauf aber hatten sie sich eingelassen. Aber nun ist er weg. Keine Erscheinungen mehr, kein Brotbrechen mit dem Auferstandenen, keine Sicherheit, dass da überhaupt jemand ist.
Verlorener Boden unter den Füßen.
Kirchmöser, 2017.
Darum kann man sich schon die Frage stellen: Sind wir heutige Christen damit nicht in einer ähnlich konfusen Situation wie die Jünger? Leben wir nicht auch oft in dem Gefühl, dass Gott weg sei?
Denn wer spürt schon Gottes Gegenwart in jedem Augenblick, wer erlebt regelmäßige Gebetserhörungen, wer kann schon von sich behaupten, in beständiger göttlicher Tröstung durch seinen Alltag zu gehen, wer lebt sein Christsein so überzeugend, dass sich davon viele Leute anstecken lassen?

Vielleicht lässt sich sogar Ihre Situation in einer Gemeinde ohne Pfarrer damit vergleichen – denn selbstverständlich macht es etwas aus, ob das gewohnte Seelsorgepersonal regelmäßig vor Ort ist oder nicht. Manch einer mag sich da verlassen fühlen von der Kirchenleitung, manch andere werden enttäuscht seltener oder gar nicht mehr kommen, viele fühlen sich vielleicht nicht bestärkt in ihrem Glaubensleben und so fort.

Wahrscheinlich kannten auch die Jünger diese Gefühle – sie waren enttäuscht, fühlten sich verlassen, wurden nachlässiger.

Genau von dieser Situation handelt das heutige Evangelium (Joh 17,6a.11b-19).
Denn die so genannten Abschiedsreden des Johannesevangeliums richten sich an die Jünger in der Zeit ohne Jesus.
Der Evangelist formuliert dafür einige Botschaften Jesu so aus, dass die Hörerschaft des Evangeliums Hinweise für ihr Leben ohne den sichtbaren Herrn an ihrer Seite findet.

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Da sagt Jesus zunächst: "Bewahre sie in deinem Namen …, damit sie eins sind wie wir." (Joh 17,11b) Eins sein, also die Gemeinschaft stärken, ist etwas, das wohl viele Gruppen in Krisensituationen zusammenhält.
Meine Gedanken gehen dabei zum Katholikentag in Münster, wo ebenfalls um 10 Uhr der Abschlussgottesdienst auf dem Schlossplatz stattfindet. Wir können uns also im Geist dazugesellen, eins sein mit den vielen Feiernden dort, denn wir feiern den gleichen Gott. Aber wir erleben die Feiergemeinde natürlich immer anders.
Ich selbst habe Events wie Katholikentage, Weltjugendtage oder Taizétreffen immer als beseligende Ausnahmezustände erlebt. Viele Menschen haben sich auf lange Wege gemacht, um miteinander den Glauben zu vertiefen, zu diskutieren, andere Menschen zu treffen.
Es ist für viele Menschen eine bestärkende Erfahrung, mal nicht nur die eigene Gemeinde zu erleben, sondern zu erfahren, dass da auch ganz andere Formen von Gebet, Gesang und Gemeinschaft sein können – ohne dass dadurch das Eigene abgewertet wird.
In einer Situation, in der wir Gott nicht mehr spüren, in der seine Nähe nicht mehr erfahrbar ist, können auch wir das ja einfach ausprobieren (ohne dafür extra zum Katholikentag zu fahren), hier in Berlin noch viel leichter als anderswo: Anstatt gar nicht in die Kirche gehen, einfach mal woanders hinzugehen, andere Formen, andere Zeiten, andere Räume auszuprobieren.
Vielleicht spricht Gott dann anders oder neu zu mir, vielleicht spüre ich ihn ganz tief, wenn ich spüre, dass ich auch mit anderen Feiernden eine Gemeinschaft sein kann.

Ich erlebe das regelmäßig im Gefängnis: Die dortigen Gottesdienste sind notgedrungen sehr anders als die Gemeindegottesdienste. Es sind wenige Leute, es sind ausschließlich Männer, fast niemand kennt die Lieder, die ich aussuche, manche kommen vornehmlich wegen des Kaffees und der Kekse, die es nach dem Gottesdienst gibt, einige versuchen vor allem, mit anderen in Kontakt zu kommen, die sie sonst nicht sehen oder sich gegenseitig verbotene Dinge zuzustecken.
Aber auch das ist ein Gottesdienst, und ich feiere dort sehr gern – denn ich spüre auch dort den intensiven Wunsch nach der Gemeinschaft mit Gott. Wenn Männer, die ich aus persönlichen Gesprächen kenne, dann als Fürbitte wortlos eine Kerze anzünden, dann bin ich oft sehr gerührt. Und auch dort sind wir Teil der einen großen Gemeinschaft derer, die zu Gott rufen, die sein Wort hören, die ihm antworten wollen.

Mal anderswo Kirche sein.
Inselkirche Neuendorf, Hiddensee, 2017.
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Dann spricht Jesus davon, dass die Jünger "nicht von der Welt" seien (v16)
Sicher haben wir als Christen dieselben Probleme wie alle anderen Menschen, oftmals benehmen wir uns ja auch nicht besser, sind also oft genug eben doch "von dieser Welt".
Aber wir können mit unseren Problemen anders umgehen. Ich nehme mal zwei Beispiele aus meiner persönlichen Erfahrung der letzten Monate: ich hatte beim hektischen Einsteigen in eine Straßenbahn mein Portemonnaie verloren. Sehr unangenehm, Anrufe bei Banken etc. Zum Glück wurde es dann im Fundbüro abgegeben, aber für ein paar Stunden war ich ganz schön neben der Spur. Und das zweite Beispiel: in der Karwoche wurde mir mein Fahrrad aus dem Hinterhof gestohlen. Angeschlossen war es selbstverständlich. Auch das hat mich erstmal etwas heruntergezogen.
Und ich bin sicher, Situationen dieser Art kennen Sie auch zu Genüge.
Man fühlt sich dann wahrhaftig nicht so, dass Gott uns "vor dem Bösen bewahrt", wie Jesus erbittet (v15). Aber ist so etwas wirklich "das Böse"? Sind solche Unannehmlichkeiten tatsächlich derartig hart, dass wir deshalb völlig geknickt sein müssen?
Wir müssen unterscheiden zwischen letzten und vorletzten Dingen, also zwischen dem, was unser Leben wirklich ernsthaft zerstören kann und dem, was eigentlich nur Peanuts sind. Die Beispiele, die ich Ihnen gerade genannt habe, sind keine letzten Dinge! Darüber sollte man einigermaßen leicht hinwegkommen.

Ich glaube, wenn Jesus sagt, dass wir "nicht von der Welt" seien, dann meint er, wir hätten als Christen einen weiteren Horizont.
"Nicht von der Welt sein" bedeutet: Wir können solchen Erfahrungen mit Gelassenheit und einer gesunden inneren Distanz gegenüber stehen.
Leider aber gibt es, auch wenn man das beherzigt, trotzdem noch genug Situationen, die uns extrem herausfordern – gesundheitliche Nöte, harte finanzielle Probleme, der Verlust lieber Angehöriger...
In solchen Fällen habe ich auch keine Antworten auf die Frage, wie Gott dieses oder jenes zulassen kann.
Ich kann nur hoffen, dass Gott uns wirklich vor dem letzten Bösen bewahrt, nicht mehr mit ihm in Gemeinschaft stehen zu wollen. Dass er uns, wie ein guter Hirte seinen verlorenen Schafen, immer wieder hinterherläuft. Dass er selbst uns aus den Situationen, in denen er sehr fern scheint, in denen er einfach weg ist, selbst herausholt.
Dabei hilft das Gebet.
Vielleicht kann man auch sagen: der Wunsch, sich finden zu lassen – das bedeutet "vor dem Bösen bewahrt" zu sein, sich trotzdem wünschen, dass Gott da ist, auch wenn das Leben noch so enttäuscht. Auch wenn es schwer ist, auch wenn es gerade sehr dunkel ist und überhaupt nicht so scheint, als würde es irgendetwas bringen – auch und besonders in solchen Situationen zu beten, kann sehr heilsam sein.

Gesammelte Zeugnisse.
Müllrose, 2017.
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In der Apostelgeschichte kommt noch eine andere Seite zum Tragen. Hier wird davon berichtet, dass die Jünger einen neuen Amtsträger bestellen, als gerade alles den Bach runterzugehen scheint. Etwas ironisch könnte man formulieren: Kaum ist Jesus weg, da baut sich die beginnende Kirche schnell neue Strukturen und beruft durchs Los den Matthias zum Apostel (vgl. Apg1, 15-17.20a.c-26).
Aber tatsächlich geht es genau darum: Wenn Gott nicht mehr so leicht erfahrbar ist, wenn Gott für unsere Gesellschaft zu großen Teilen eine Leerstelle ist, gerade dann braucht es Zeugen. Matthias wird als einer von denen eingeführt, "die die die ganze Zeit mit uns zusammen waren, als Jesus, der Herr, bei uns ein und aus ging, angefangen von der Taufe durch Johannes bis zu dem Tag, an dem er von uns ging und in den Himmel aufgenommen wurde". (v21f)
Es braucht uns alle – als Menschen, die Erfahrungen mit Gott gemacht haben.
Als Menschen, die in der Lage und willens sind, von diesen ihren Erfahrungen zu erzählen, wenn Gott fort zu sein scheint.
Dazu braucht es kein Los und keine amtliche Beauftragung.
Nun wird sich nicht jeder gern hier vorn hinstellen und von seinen Erfahrungen mit Gott berichten. Mancher wird sich jetzt auch fragen: War da überhaupt was?
Vielleicht kann man aber auch anders formulieren: Wir sind alle aufgefordert, eine Aufgabe in der Kirche zu finden, die zu uns passt.
Ich weiß, dass viele von Ihnen hier oftmals sehr aktiv sind – neulich bin ich vorbeigelaufen, da wurde der Hof gerade von sehr vielen Leuten gereinigt. Es gibt das Nachtcafé, den Winterspielplatz, die Kinderkirche, eine Menge Bereiche, in denen sich viele Menschen einbringen.
Auch das kann ein Zeugnis von Gottes Liebe zu den Menschen sein. Auch auf diese Weise sind wir Apostel und Apostelinnen Jesu.

Zusammengefasst also meine drei(einhalb) Gedanken:
Gott ist zwar weg, aber ...
... die Gemeinschaft miteinander kann uns aufrichten, vielleicht auch mal an einer anderen Stelle.
... die innere Distanz gegenüber manchen gar nicht soo wichtigen, vorletzten Dingen dieser Welt kann uns gelassener machen. Und dort, wo wir wirklich "vom Bösen" angefochten sind, kann uns der Wunsch, dass wir von Gott gefunden werden, schon wieder näher zu ihm bringen.
... es kann helfen, dass wir von unseren Erfahrungen mit Gott erzählen.

Aber, das ist das Tollste, schließlich ist die Geschichte ja nicht damit vorbei, dass Gott weg ist.
Nächste Woche feiern wir Pfingsten und erinnern uns daran, dass Gott uns ja seinen Geist gesandt hat.
Das bedeutet: Gott kommt wieder! Er ist schon da!
Wir dürfen ihn anrufen, seinen Heiligen Geist neu in unsere Mitte bitten. 

Spuren des Geistes?
Treptower Park, Berlin, 2016.