Mittwoch, 16. Mai 2018

Provokation mit Häkchen. Kommentar zu Erik Flügges "Eine Kirche für viele"

Ich bin nah dran an der Situation, die sich Erik Flügge in seinem neuen Buch wünscht.

Mit „Eine Kirche für viele statt heiligem Rest“ hat der Politikberater und Autor, der auch schon über die Probleme kirchlichen Sprechens publiziert hat, nun eine Art fundamentaler Strukturkritik vorgelegt. Es ist wieder ein Buch herausgekommen, das vor Pauschalisierungen und harten Worten nicht zurückschreckt.
Leichtgewicht oder Überflieger?
Berlin, 2018.
Kurz gesagt geht es ihm darum, dass möglichst viele Kirchenmitglieder mit der Kirche, der sie angehören, in Kontakt kommen. Derzeit würden aber, so schreibt er, Angebote für den Kern von 10 Prozent gemacht, der Rest zahle zwar Kirchensteuer, würde aber nie etwas von der Kirche sehen. Nötig seien deshalb statt Gebäuden und Strukturen in erster Linie face-to-face-Kontakte, konkret schlägt er Besuche von Hauptamtlichen und engagierten Ehrenamtlichen bei den inaktiven Christen vor. Ziel ist eine "Kirche für alle", die nicht auf ihren Immobilien hockt und jammernd wartet, wer noch kommt, sondern sich selbst in Bewegung bringt und zur "aufsuchenden Kirche" wird.1

Ich gehe im Gefängnis einer äußerst privilegierten Tätigkeit nach, wie ich hier schon mehrfach geschrieben habe. Der Großteil meiner Arbeit besteht in der Tätigkeit, die Flügge anpreist: Seelsorgsgespräche. Ich werde angefragt und suche auf, ich unterhalte mich auf den Gängen und komme ganz nebenbei in gute Gespräche, ich treffe jemanden bei der Arbeit und unterhalte mich dort kurz oder lang, ich lade auf einen Kaffee in mein Büro und spreche mit den Gästen, ich besuche einen Kranken im Haftkrankenhaus und mache einen Gesprächstermin mit seinem Bettnachbarn aus.
Anders gesagt: Meine Seelsorgsarbeit ist in der Regel Gesprächsseelsorge. Einzelseelsorge. Kontaktaufnahme mit denen, die oft fern der Kirche sind und nun einen Anlass haben, sich mit mir zu unterhalten.

Darum muss ich Erik Flügge zustimmen, wenn er die Seelsorge an den Einzelnen, an den Fernen, an denen, die sonst nicht im Kontakt mit der Kirche stehen, zur zentralen Aufgabe der Kirche macht. Ich erlebe genau das nicht nur als sehr erfüllend, sondern auch als sehr lehrreich (wenn auch im Gefängnis in einem Kontext der Unfreiheit, der meinem Klientel nur wenig andere Möglichkeiten lässt). Sympathisch ist besonders seine spirituelle Pointe, dass die Aufsuchenden durch ihre Begegnung selbst Gott im Gespräch neu entdecken können.

Allerdings habe ich mich bei der Lektüre dieses Buches oft gefragt, welches Bild von Kirche in diesen Gedanken steckt.
Kritisiert wird die Vielfalt kirchlicher Arbeit und das damit verbundene Problem, dass das Geld der Kirche zu einem großen Teil in Schulen, Orgeln, Gemeindehäusern, Mentoring-Programmen, Diözesanmuseen etc. steckt.2 Würde dieses Geld stattdessen in pastorales Personal investiert, dann könnten, so die Rechnung von Flügge, alle fernstehenden, aber gleichwohl kirchensteuerzahlenden Menschen in den Gemeinden zu Gesprächen besucht werden.
Die dahinterstehende Logik entspricht deutscher Kirchensteuermentalität: Wer zahlt, muss auch etwas dafür bekommen. Dieser Gedanke ist nicht leicht von der Hand zu weisen. Gleichwohl entspricht er einer Versorgungsmentalität, die ich nicht teile. Wenn ich in einem Verein Mitglied bin oder ein Konzertabo habe, muss ich mich trotz des meinerseits investierten Geldes auch hinbewegen, wenn ich in den Genuss der bezahlten Leistung kommen will. Ob das Geschäft der Kirche dagegen vorrangig der Hausbesuch ist, darüber kann und sollte man streiten.

Leere Kirche.
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche,
Ruine, Berlin, 2015.
Meiner Meinung nach muss die Antwort auf die Frage nach der "Aufgabenstellung" der Kirche in eine andere Richtung weisen.
Im Zentrum der Ausführungen Flügges steht theologisch gesprochen das Konzept Einzelseelsorge durch Gespräche. Flügge nennt es "Kontaktarbeit"3 und verweist auf die Wichtigkeit persönlicher Beziehung in der Glaubensweitergabe und -stärkung.
Wenn ich das lese, kann ich den zugrundeliegenden Gedanken für viele Situationen, die ich persönlich in meinem sehr speziellen Arbeitsfeld der Gefängnisseelsorge erlebt habe, bejahen: Ja, Kontaktaufnahme seitens der Kirche ist (besonders in Krisenzeiten) höchst willkommen und wird selten rundweg abgelehnt. Zudem wäre man nah dran an der Praxis Jesu und würde sicher viele Fernstehende ansprechen können.
Je länger ich allerdings in diesem Kontext arbeite, desto mehr wird mir klar, wie breit allein die Palette kirchlicher Angebote (im konkreten Fall: meiner) im Justizvollzug sein muss, um viele Menschen zu erreichen.

Drei Beispiele:
Viele derer, die ich im Gottesdienst sehe, habe ich auch schon ein (kleines) Stück ihres Weges im Gefängnisalltag begleitet. Andere aber habe ich außerhalb von Gottesdiensten noch nie gesehen. Sie suchen kein Gespräch, sondern wollen die Liturgie als Feier des Glaubens genießen.
Wieder andere suchen weder Gespräch noch Gottesdienst, sondern sprechen mich an, damit ich ihnen einen näheren Kontakt zu ihren Kindern ermögliche, indem sie eine Extra-Besuchszeit in unseren gemütlicher eingerichteten Räumlichkeiten der Seelsorge bekommen. Auch dann weiß ich, dass es ein genuin kirchlicher Dienst ist, diese Bindungen zu stärken und darum in dieser Weise unterstützend da zu sein.
Schließlich organisiere ich eine polnischsprachige Gruppe, bei der wir neben dem Genuss von Kaffee und Kuchen auch theologisch-religiöse oder existenzielle oder rechtliche Fragen ansprechen. Wir pflegen Gemeinschaft, backen zusammen und sprechen anfangs und am Ende ein Gebet. Kaum einer der Teilnehmer sucht daneben noch ein Einzelgespräch und auch meine Einladungen zum (deutschsprachigen) Gottesdienst werden regelmäßig dankend abgelehnt.
Für mich bedeutet das, dass ich mit meinen verschiedenartigen Angeboten verschiedene Zielgruppen erreiche und dabei jeweils genuin kirchliche Aufgaben übernehme. Nichts davon ist unwichtig und sollte leichtfertig zugunsten von Einzelgesprächen über Bord geworfen werden.
(Im Kontext von Schulseelsorge habe ich dies übrigens noch krasser erlebt. Der Bedarf an Einzelgesprächen ist auch hier gegeben, aber viele Angebote brauchen doch eine spielerische und eher gemeinschaftlich orientierte Durchführung. Gespräch ist nicht der bevorzugte Modus dieser Art von Seelsorge.)

Pointiert zusammengefasst: Es braucht eine Vielfalt kirchlicher Angebote für die Vielfalt von Menschen, die in Gemeinden, Gefängnissen, Krankenhäusern, Schulen, Kasernen etc. angesprochen werden sollen.

Darum möchte ich aus der Perspektive des Gefängnisseelsorgers differenziert zustimmen: Viele Beobachtungen Flügges sind richtig und vieles an kirchlichem Engagement gehört auf den Prüfstand. Manches davon muss sicher aufgegeben werden. Verteilungskämpfe wird es dabei immer geben.
Aber Kirche braucht allein von ihrem theologischen Auftrag her eine gewisse Bandbreite. Die Feier des Glaubens, die Pflege der Gemeinschaft, die Werke der Barmherzigkeit, die Glaubensweitergabe und dabei eben auch das Gespräch Aug in Aug.

Die Stärke von Flügges Ausführungen ist ihr Provokationspotenzial. Seine Gedanken können nachdenklich stimmen, außerdem will der Autor mit seinen Thesen erklärtermaßen zuspitzen. Allerdings muss das Büchein auch berechtigten Widerspruch auslösen, einen grundlegenden Aspekt habe ich hier dargelegt.
Trotz meiner Kritik halte ich aber fest: ein lohnenswerter Einwurf, der die Auseinandersetzung wert ist und einen Stachel im kirchlichen Getriebe einer reichen Kirche ohne gläubiges Volk darstellen kann. 

Platz für viele.
Christuskirche, Rostock, 2015.

1   E. Flügge, D. Holte, Eine Kirche für viele statt heiligem Rest. Freiburg i.Br. 2018, 60.61.
2   Vgl. ebd., 21.
3   Ebd., 59.