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Freitag, 27. Januar 2017

Identität und Scham – Gedanken zum Holocaust-Gedenktag

Ich liebe dieses Land.
Mit dem 27. Januar als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Mit dem 08. Mai als Gedenktag des Kriegsendes.
Ich liebe, was dieses Land ausmacht, aber nicht alles, was in seiner Geschichte geschah.
Es gibt Verabscheuungswürdiges und Bewundernswertes, Ekelhaftes und Schönes. 
Wie überall.

Und es gibt eine Kultur, die über beides, die eigenen Licht- und Schattenseiten, nicht schweigt. (Jedenfalls nicht immer.)
Es gibt Selbstkritik als Grundlage einer reflektierten Identität, was manchmal zu moralischer Besserwisserei führt. Aber in diesem Land lebt eine Bereitschaft, sich mit sich selbst und der eigenen Geschichte kritisch auseinanderzusetzen.
Diese Haltung mag individuell sehr verschieden verwirklicht werden. Sie schuf jedoch einen weitreichenden Konsens über gewisse grundlegende Tatsachen in der Geschichte dieses Landes.

Mittwoch, 21. Dezember 2016

"Die Nacht ist vorgedrungen" - Weltdunkel und Adventlicht

Die Tage werden kürzer, die Ereignisse schrecklicher.
Nach dem (vor)gestrigen Anschlag in Berlin habe ich auch für den Blogoezese-Adventskalender nur wenig anderes im Kopf als dies.

Dunkel scheint sich über die Welt zu legen, wenn ich ernsthaft beginne, mir vor Augen zu halten, was da geschehen sein muss und wie es Betroffenen wohl gehen mag. Ich selbst kann mir gar nicht vorstellen, was in Menschen vorgeht, die einen lieben Menschen dort sterben sehen mussten oder in den ersten Stunden des heutigen Tages verloren haben.
"Seelendunkel" wird es in vielen Fällen wohl treffen, wenn Fassungslosigkeit, Resignation, Trauer, Wut, Leere und Angst inbegriffen werden sollen.

Dem heutigen kürzesten und dunkelsten Tag des Jahres steht diese Licht-Dunkel-Rede vielleicht auch besser als viele andere Gedanken.

Freitag, 12. August 2016

JosephsReligion 8 - Rasse oder Geist

Am 12. August 1955, also heute vor 61 Jahren, starb Thomas Mann in Zürich. Gegen den Ungeist des Nationalsozialismus hat er sich nicht nur in vielen privaten Briefen und öffentlichen Radioansprachen gewandt - sondern auch in seinem großen Josephsroman, der seit 1933 in vier Teilen erschien. 
Mann wollte darin einen biblisch inspirierten Gegenentwurf zum geistlosen Rassismus, der in jener Zeit in Deutschland wütete, bieten.
Selten genug wird der Roman diesbezüglich eindeutig - aber vor einer der heikelsten Szenen, nämlich der versuchten Verführung Josephs durch die Frau des Potiphar, geschildert im dritten Band "Joseph in Ägypten", der 1936 erschien, geschieht es.
Diese Stelle möchte ich an seinem Todestag kurz anführen. 

Montag, 8. August 2016

"Komm, wir gehen für unser Volk!" Das jüdisch-christliche Martyrium der Edith Stein

Der Gedanke vom Mit-Leiden mit Christus als dem Gekreuzigten prägte Edith Stein so sehr, dass sie als Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce wählte, also "Theresia, die vom Kreuz gesegnete". Darin drückte sich einerseits ihre Verehrung für Teresa von Avila aus, deren Autobiographie sie 1921 zum entscheidenden Schritt in den christlichen Glauben bewegte, andererseits bezieht sie sich mit diesem Namen auf Johannes vom Kreuz, dessen Werk sie in ihrer "Kreuzeswissenschaft" systematisch durchdeklinierte.

Schließlich aber wird ihr Name auch sprechend und ganz und gar praktisch durch ihr eigenes Sterben am 9. August 1942 in Auschwitz.
Doch klargestellt werden muss auch: Edith Stein, die Christin gewordene Jüdin, die Philosophin und Karmelitin, wird ermordet, weil sie Jüdin war, nicht weil man ihr Christsein bestrafen wollte. Insofern ist sie eines der vielen Opfer des Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten, der auf das Bekenntnis nicht achtete, sondern nur auf die biologische Herkunft.

Freitag, 5. August 2016

Aus dem "Abschlussbericht des Kampfes zur Erreichung des Staatstitels 'Kollektiv der sozialistischen Arbeit'" von 1973

Das ist Sozialismus hautnah!
Aus familiärer Quelle ist mir dieser Tage ein eher unter Kuriosität zu verbuchender Papierstapel unter die Hände gekommen – nämlich ein auf 1973 datierter "Abschlussbericht des Kampfes zur Erreichung des Staatstitels 'Kollektiv der sozialistischen Arbeit'" aus einem großen Kombinat der DDR.
Da meine Kenntnisse dieser Zeit eher rudimentär sind, kann ich seine Bedeutung auch nur laienhaft einschätzen. Ein kurz zusammenfassender Versuch: es handelt sich um die Teilnahme zweier Gruppen des Werkes an einem Wettbewerb, im Verlauf dessen, basierend auf einer Selbstverpflichtung, eine Reihe fachlich-betrieblicher und politisch-agitatorischer, aber auch kultureller und sportlicher Verbesserungen geleistet werden sollen. 
Ich habe mich bei den folgenden Beispielen auf Politik, Sport und Kultur konzentriert und das Betriebliche außen vor gelassen.

Mittwoch, 20. Juli 2016

Planungen für ein neues Deutschland. Christliche Widerstandsmotivation im Kreisauer Kreis

Der 20. Juli 1944 hat sich im öffentlichen Gedächtnis nicht nur mit Stauffenbergs Attentat auf Hitler, sondern auch ganz allgemein mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus verbunden. Dabei gab es neben dem eher aristokratisch-konservativen Widerstand um Stauffenberg auch andere Gruppen, die eher kommunistische, christliche oder sozialdemokratische Motive hatten. Der gemeinsame Nenner, auf den diese Widerstandsgruppen zu bringen sind, wären damit weder ihre Methoden, noch ihre kurz- oder langfristigen Ziele, sondern nur der Gegner.

Ein herausragendes Beispiel der Zusammenarbeit von Widerständlern ganz unterschiedlicher Herkunft und Stellung war der Kreisauer Kreis, der sich seit 1940 um den Völkerrechtler Helmuth James von Moltke sammelte. Neben Sozialdemokraten wie Julius Leber und Adolf Reichwein fanden sich dort evangelische und katholische Theologen wie Eugen Gerstenmaier, Harald Poelchau und Alfred Delp, aber auch adlige Militärs wie Peter Yorck von Wartenburg oder eben der Jurist Moltke selbst. Abwägend-zurückhaltende Kontakte zum konservativen Goerdeler-Kreis bestanden ebenso wie zur Stauffenberg-Gruppe.

Montag, 4. Juli 2016

Der Hass wandert aus, aber er bleibt. Aktuelle Gedankensplitter

Ich bin der Meinung, dass die Menschen sich durch die Jahrtausende ziemlich gleich geblieben sind. Es mag hier und da etwas mehr Reflektiertheit und breitere Bildung geben und sogar etwas mehr Zivilisiertheit, aber wenn die Zeiten prekär werden, bleibt sich im Grunde vieles gleich.

Was wir an Hass und Wut im Netz und (nach dem Verfassungsschutzbericht des letzten Jahres) auch in der nichtvirtuellen Realität vor allem an den politischen Rändern wahrnehmen können, war doch nie wirklich verschwunden. Vielleicht wurden Ressentiment und Verachtung Anderer von Wohlstand und Behaglichkeit leidlich zugedeckt, aber doch nicht einfach fort.

Sonntag, 3. Juli 2016

An Hiobs Seite - Elie Wiesel zum Gedächtnis

Elie Wiesel ist tot.

Der Autor und Friedensnobelpreisträger, dem das eigene Überleben in Buchenwald und das massenhafte Sterben seines Volkes angesichts eines schweigenden Gottes zum beherrschenden Thema seiner Schriften wurde, er ist nun im Alter von 87 Jahren gestorben.

Sein aus tiefer jüdischer Frömmigkeit inspiriertes Werk verdient es nach meiner Meinung, wieder und wieder gelesen zu werden. Denn in seinen Romanen und Erinnerungen, Essays und Reden spiegelt sich das Ringen eines Versehrten um den Gott Israels mitsamt den Zweifeln am Bundesversprechen gegenüber seinem Volk, das sich im Holocaust dann so verlassen fühlte.

Freitag, 17. Juni 2016

Selbstkritik als politische Tugend – Über Polen und Deutsche

Zurückblicken heißt immer auch, Geschichte zu deuten – gerade in Polen und Deutschland jedoch kommt es durch die verschiedenen Perspektiven auf die Geschichte regelmäßig zu Konflikten. In diesem Jahr allerdings wird am 17. Juni besonders an 25 Jahre freiwillige gute Nachbarschaft mit den Polen erinnert.

Was Deutsche, jedenfalls zu Teilen, in ihr kollektives Gedächtnis aufgenommen haben, ist eine (auf anderen Feldern bisweilen arg vernachlässigte) politische Tugend: die der Selbstkritik.
Als historisch angewandter Perspektivwechsel bezeichnet sie die Fähigkeit, sich auch mit den Schattenseiten der eigenen Kultur auseinander zu setzen. So kann sie bestenfalls Gewissen schärfen und Verantwortungsbereitschaft nähren.

Sonntag, 29. Mai 2016

Jugendweihe als Gegenkirche - "Hier unten leuchten wir"

Nun also das absolute Gegenprogramm zum Katholikentag. Am Samstag habe ich in Thüringen einer Jugendweihefeier beigewohnt und konnte dem Kontrast durchaus einiges abgewinnen. Wobei es gar nicht nur ein Kontrast war, sondern in manchen Äußerlichkeiten durchaus nahe an den kirchlichen Feiern. 

Der Volksatheismus ist im Osten der Republik in manchen Gegenden so etabliert wie in anderen Gegenden die Großkirchen. Inzwischen kennen ein bis zwei Generationen nicht einmal mehr die Angebote der Kirchen aus eigenem Erleben und so kann die "Interessenvereinigung Jugendweihe e.V." in manchen Schulen um die 90% der Jugendlichen erreichen. Wer sich als Elternteil nicht von der Vergangenheit der Jugendweihe in der DDR abschrecken lässt, erlebt in den selbstbewusst gestalteten Feiern, die in Verantwortung des humanistischen Verbandes stattfinden, eine selbstverständlich auch auf die eigene über 150 jährige Tradition stolze Veranstaltung. 

Samstag, 21. Mai 2016

Nicht tragbare Botschaft? - 100. Katholikentag im Osten

"Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen." (Joh 16,12)

Der Katholikentag in Leipzig naht geschwind. Einige Aufmerksamkeit ist ihm im Vorfeld ja deshalb zuteil geworden, als die Wahl für diesen 100. Jubiläums-Katholikentag auf eine Stadt im weitgehend entchristlichten Osten der Republik fiel.
Wenn ich vor diesem Hintergrund einen Blick auf das Evangelium des Dreifaltigkeitssonntags werfe, dann sticht mir der erste, oben zitierte Satz in die Augen – Jesu Botschaft ist größer als das, was in die Herzen der Menschen passt. Vielleicht bietet der Satz darum eine passende Einstimmung auf das Umfeld des großen Treffens am langen Fronleichnamswochenende.

Sonntag, 8. Mai 2016

Eins sein in Liebe - Kriegsende und Muttertag in einem

Der naheliegendste Gedanke zum heutigen Evangelium am 8. Mai, dem Jahrestag des Kriegsendes, ist für mich die Verbindung der Bitte Jesu um die Einheit aller Menschen (Joh 17,21) mit der Einsicht der kriegführenden Parteien nach Ende des Krieges, dass es eine Instanz der Einheit braucht. So kam es einige Jahre später zur Gründung der Vereinten Nationen. Und auch die vorwiegend christlich motivierten Gründungsväter der Europäischen Union hatten die Einheit der Völker zum Ziel.
Doch der Krieg ist auch 70 Jahre nach 1945 nicht aus der Welt, mancherorts tobt er schlimm wie lange nicht. Und auch von Einheit der Völker keine Spur, nicht in der EU, nicht in den Vereinten Nationen, nirgends.

Mittwoch, 27. April 2016

"Liebe und Wohlwollen zu den Deutschen" – Petrus Canisius als zweiter Apostel Deutschlands

"Sie sollen die erforderliche Gewandtheit im Umgang mit den Deutschen, besonders mit den führenden Männern besitzen ... Im Gespräch sei man weder sarkastisch noch überheblich; vielmehr lasse man sich von Liebe und Wohlwollen zu den Deutschen leiten und sei in Gedanken und Worten offen zu ihnen. ... Die Deutschen werden durch Höflichkeit und Bescheidenheit, die unsere Patres auszeichnen sollten, ... gewonnen ..."1

So schrieb der Jesuit Petrus Canisius 1565 an die Zweite Generalkongregation seines Ordens, um den dort versammelten Patres mitzuteilen, welche Fähigkeiten und Haltungen Ordensangehörige in Deutschland haben müssten.

Mittwoch, 20. April 2016

Wie geht Integration? - Eine Foto-Reflexion vom Tempelhofer Feld

Wenn nun alle Welt über die Integration von muslimischen Flüchtlingen in europäisch-westlich geprägte Gesellschaften spricht - und die AfD sich überdeutlich gegen den Islam stark macht, nehme ich dies zum Anlass für eine fotografische Reflexion anhand eines inzwischen überregional bekannten Ortes in Berlin.

Dem Tempelhofer Feld sieht man den Gang seiner Geschichte nur an einigen Stellen an: es war sowohl militärischer Paradeplatz als auch Flugplatz für die Rosinenbomber, es war Ort eines Konzentrationslagers und ist heute Freizeitpark - auf dem zugleich mehrere tausend Flüchtlinge in den ehemaligen Hangars wohnen. 

Das Feld ist sozusagen ein Querschnitt durch Deutschland.

Dienstag, 15. März 2016

Zumutung Demokratie – "Wechselseitige Anerkennung gleicher Freiheit"

"Demokratie unterstellt allen die Fähigkeit, ihre eigenen Angelegenheiten beurteilen zu können."1 Darum lässt sich am Beginn der Demokratie eine Art "Versprechen wechselseitiger Anerkennung gleicher Freiheit"2 denken, das die Grundlage der Demokratie bildet.
Noch stärker ausgedrückt mündet diese wechselseitige Freiheitsunterstellung dann in der These: "Mit der demokratischen Anerkennung unterstellen wir uns ein gleiches Urteilsvermögen."3
Denn wir sind zwar "nicht alle gleich klug, gebildet oder erfahren. Aber die Demokratie unterstellt allen das gleiche Vermögen, eigene und öffentliche Angelegenheiten zu beurteilen, wenn sie gleiche politische Entscheidungsrechte vergibt. Diese Unterstellung ist nicht als barmherzige Nivellierung bestehender intellektueller Unterschiede zu verstehen. Vielmehr ist politisches Urteilsvermögen keine Fähigkeit, die einfach mit Ausbildung oder Intellektualität zunehmen würde, wie nicht zuletzt die Verführbarkeit von Intellektuellen durch den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts zeigt. Politische Urteilskraft betrifft die elementare Fähigkeit, beurteilen zu können, was für das eigene Leben richtig und wichtig ist und was nicht."4

Freitag, 4. März 2016

Der Gekreuzigte 3 – Allmächtiger Durst und Quelle des Lebens bei Antoine de Saint-Exupéry

Der Autor des „Kleinen Prinzen“ war ein frommer Mann. In vielen seiner Werke setzte sich der Pilot und Schriftsteller mit christlichen Motiven auseinander, auch sein meistzitierter Satz vom Herzen, das allein einen guten Blick hat, kann als Verfremdung und Weiterführung eines Bibelwortes über Gottes Blick (vgl. 1Sam 16,7) gelesen werden.
Hier jedoch soll es um Gedanken zum Gekreuzigten gehen, Gedanken die mit Themen wie Stellvertretung, Hingabe, Liebe und Leiden mal mehr, mal weniger explizit im Werk auftauchen – und auch der Blick des Herzens wird nicht zu kurz kommen.

Montag, 8. Februar 2016

Beschnitten – Eine Entdeckung zur Nacktheit

Vor kurzer Zeit habe ich in der Sauna einen beschnittenen Mann nackt gesehen, zum ersten Mal in meinem Leben.
Im Nachdenken darüber ist mir auf einmal schlagartig klar geworden, was für eine wahnsinnige und nicht mehr aufhebbare Bindung diese Art von religiöser Initiation erzeugt.
Wie sehr die Zugehörigkeit zur Religion in den eigenen Körper eingeschrieben ist, so dass eine mentale Distanzierung vielleicht möglich ist, aber durch den eigenen Körper immer wieder konterkariert wird. 
Ich bin allenfalls durch meine Kette mit Kreuz und meinen Ehering ansatzweise ausdeutbar, beides ist aber reversibel an meinen Körper und kann jederzeit abgenommen werden. Für einen beschnittenen Mann dagegen kann jedes Duschen und jede Erfahrung von Nacktheit eine Erfahrung oder wenigstens Bewusstwerdung der eigenen Religion sein.

Dienstag, 26. Januar 2016

Erinnern mit Widerständen und Erinnern als Widerstand - Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des NS

Ruth Klüger schrieb Anfang der 1990er Jahre ihre Reflexionen über die Ghettos und Lager, in denen sie einen Großteil ihrer Kindheit verbringen musste. Damals gab es bereits eine ansehnliche Zahl von Zeitzeugenberichten, "so daß ich heute nicht von den Lagern erzählen kann, als wäre ich die erste, als hätte niemand davon erzählt, als wüßte nicht jeder, der das hier liest, schon so viel darüber, daß er meint, es sei mehr als genug, als wäre dies alles nicht schon ausgebeutet worden - politisch, ästhetisch und auch als Kitsch."1

Warum also heute trotzdem davon erzählen, warum nicht besser schweigen, warum vor allem an diesem Ort das Thema wiederum aufgreifen?

Aus Befangenheit "in einer Art Schreckensrührung",2 wie Ruth Klüger sie in manchen wohlmeinenden Deutschen sieht oder weil Deutschland immer noch "ein von Hitler traumatisiertes Land" ist, wie Alain Finkielkraut jüngst in der Zeit unterstellte?
Selbstverständlich hat das Nachdenken über die Shoah hierzulande oft eine pädagogische und vielleicht auch therapeutische Komponente. 
Zugleich aber geht der gesellschaftlich-ethische Gehalt des Erinnerns der Shoah tiefer, als die gängigen mahnenden Schulddiskurse und das stets wiederholte plakative (wenngleich notwendige) "Nie wieder!" suggerieren.
Dazu zwei Erwägungen.

Samstag, 23. Januar 2016

"Dabei hielten sie sich an die Überlieferung..." – Geistesgegenwart durch Tradition

Als Sozialwesen stehen wir Menschen nicht nur in biologischer Beziehung zu unseren Vorfahren, sondern in einer langen Reihe von Traditionen und Überlieferungen, die über unsere persönlichen Herkünfte und Überzeugungen hinausgehen. Das mögen wir im Einzelfall schätzen oder nicht, wir haben immerhin die (relative) Freiheit, uns dazu zu verhalten.
Wenn in einigen Tagen zum Beispiel der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird, kann uns dieses Gedenken beunruhigen oder erschüttern oder aggressiv machen oder wir können es als nicht zu uns gehörig abweisen – inwieweit wir mit einer Reaktion der Sache und uns selbst gerecht werden, steht dann wiederum verschiedenen Interpretationen und Werturteilen offen.

Das Evangelium des heutigen Sonntags berichtet ebenso vom spezifischen Verhältnis, in das sich Menschen zu einer vorgegebenen Tradition stellen.

Donnerstag, 7. Januar 2016

Köln, Warschau und die Glienicker Brücke – Vom Härtegrad des Rechtsstaats

Angesichts der massenhaften sexuellen Übergriffe auf Frauen in Köln und anderswo ruft man allerorten nach der "Härte des Rechtsstaats", was nach meinem Verständnis so viel heißt wie die konsequente Anwendung der bestehenden Regeln und Gesetze, um Täter zur Rechenschaft zu ziehen und den Kern des Rechts zur Geltung zu bringen. Dieser Kern ist in Deutschland durch den Ersten Artikel des Grundgesetzes und damit durch die Würde des Menschen bestimmt, deren Schutz in vielen weiteren Artikeln und Gesetzestexten ausdekliniert wird.